Fünf Uhr morgens

Ich liege seid 5 Uhr wach und fühle mich allein. Zwar kann ich die Stimmen und die Schritte der Schwester auf den Flur hören, doch sie war kurz hier und hat mir zu verstehen gegeben, sie könnte nicht andauernd hereinkommen. Sie hat mir den Fernseher angemacht aber nicht gemerkt, dass ein Sportsender läuft. Es ist nur Werbung für Heimtrainer und Fitnesskurse zu sehen – und ich liege hier mit amputierten Beinen.

Ich weine sehr viel, obwohl ich eigentlich ein Mann sein soll. Doch seit meinem Schlaganfall erlebe ich die linke Hälfte meines Körpers nur als Belastung, fühle mich nicht mehr als Mensch, geschweige denn als Mann. Ich bin 85 Jahre. So alt wird kein Schwein. Und ich liege hier und warte auf die Ereignisse des Tages.

Ich liege auf meinem Bett voll mit Kissen, Decken, Oberbett, Wärmeflasche, Taschentücher, wie auf Watte. Ich kann mit meinem gesunden Arm mich ein wenig mit dem „Galgen“ bewegen, doch nicht viel. Wenn ich es nicht aushalten kann, so drehe ich mich zur gelähmten Seite – nur ich kann dann nicht mehr zurück. Die Schwester drückt mir ein Kissen in den Rücken und sagt: es muss sein! Schlimmer noch, sie nehmen manchmal eine gefaltete Decke – wie Steine im Rücken fühlt sich das an. Doch die wissen nicht, wie es ist, stundenlang hier zu liegen mit Steinen in den Rücken.

Sie wissen ohnehin nicht, wie mein Leben abgelaufen ist. Sie wissen nicht, wie es ist Diabetes zu bekommen, wie schwer es sein kann, Diät einzuhalten. Sie sagen mir nur, dass meinen amputierten Beinen auf das Nichteinhalten meiner Diät zurückzuführen ist. Also, selbst schuld! Sie wissen erst recht nicht, wie es ist, einen Schlaganfall zu bekommen und im Krankenhaus aufzuwachen. Damals habe ich niemanden verstanden und konnte mich nicht äußern. Ich konnte mich überhaupt nicht bewegen und sah auch nichts, was links von der Mitte war.

In meiner Jugend war ich sportlich. Ich war, wie die meisten, auch in der Wehrmacht. Mein Vater war auch Soldat gewesen. Nur er ist nicht so wie ich gestorben. Ich habe viele Menschen gekannt, war auch bekannt bei vielen und konnte mitreden. Ich gehörte dazu. Nun bin ich abseits, liege in einem Zimmer mit jemand anders – manchmal weiß ich wer es ist, manchmal kommt es mir vor, als wäre jemand aus der Familie dort. „Alles Quatsch!“ sagen die Schwestern. Was wissen sie schon!

Es ist immer noch halb sechs. Erst um sechs Uhr kommt die erste zum Frühdienst, aber erst um acht Uhr werden sie bei mir die Tür aufmachen. Bis dahin werde ich diesen Mist im Fernsehen ertragen müssen – die Fernbedienung finde ich nicht und die Schelle haben sie weggenommen – glaube ich zumindest. Erst um acht Uhr wird Schwester Maria durch die Tür kommen. Sie lächelt dann freundlich und wird mich waschen und anziehen. Sie ist Ausländerin, wie so viele Mitarbeiter hier im Heim. Doch sie ist freundlich.

Manchmal bin ich ungehalten, weil ich schlecht geschlafen habe. Manchmal habe ich „Phantomschmerzen“, wie sie sagen. Phantom, das ist wie ein Geist oder sowas, aber meine Schmerzen sind real. Manchmal habe ich so einen Heißhunger oder Durst bis unter beide Arme, doch ich komme nicht an das Wasser heran. Da kann ich ungemütlich werden. Manchmal komme ich an die Flasche, kann aber mit meinen eine Hand die Flasche nicht öffnen. Es ist schon mal vorgekommen, dass ich die Flasche gegen die Wand geworfen habe. Da kam jemand – aber nur zu schimpfen, zu trinken bekam ich immer noch nicht.

Das Schlimmste ist, wenn sie so tun, als wäre ich ein Kind. Ich bin kein Kind, auch wenn sie mich drehen und wenden müssen. Auch wenn sie mich aus dem Bett in meinen Rollstuhl heben müssen, mir den Stecktisch an den Rollstuhl befestigen, oder ein Lätzchen umhängen. Aber, was bin ich eigentlich? Tagsüber bekomme ich von einigen manchmal das Gefühl, wichtig zu sein. Aber nur einige. Die sagen: Er ist schwierig! Doch sie sollten das erleben, was ich erleben muss. Das ist kein Leben.

Aber meine Kinder sind noch berufstätig. Sie können mich nicht pflegen, sagen sie. Sie kommen jeden Tag. Ich sollte wohl dankbar sein. Mein Sohn ist auch noch geschieden … scheiß Leben. Ich habe schon der Schwester gesagt, die sollen mir eine Spritze geben zum Schlafen – für immer. Doch die tun‘s nicht. Sie haben ohnehin den falschen Beruf. Ich habe den Chef, so wie sie alle sagen, gefragt, ob er immer noch an dem Beruf Spaß hat, er sagte ja. Doch es wäre nichts für mich.

Er ist auch freundlich, kann mich eigenhändig aus dem Rollstuhl heben – aber ein Griff hat er, da bleibt kein Auge trocken. Aber er ist freundlich und spricht mit mir, als wäre ich ein Mann. Er würde sagen: Sie sind ja ein Mann! Ich glaube, er hat auch Ahnung. Die Schwestern fragen ihn immer, wie mein Po behandelt werden sollte – und er sagt immer: „Es sieht besser aus heute,“ oder „da müssen wir was tun.“  Oder er kommt und sieht die Wunden an den Stümpfen an, die immer noch nicht zugewachsen sind.

Vielleicht kommt er heute zu mir. Aber, er ist nicht so oft da. Irgendjemand wird kommen – nur bis dahin werde ich wahrscheinlich wieder eingeschlafen oder vor Durst oder Hunger umgekommen sein. Manche reden so laut, dass man Kopfschmerzen bekommt – andere sagen nur das Nötige. Da kommt man sich wie ein Stück Fleisch vor, das zubereitet wird. Was soll‘s – ich kann nur nicht mehr diesen Fitnesswahn im Fernseher ansehen. Ich mache die Augen zu, vielleicht kann ich schlafen, vielleicht träumen – vielleicht ….