Ich war mit meiner Frau und einem Freund unterwegs und wir kamen ins Gespräch über unsere Geschwister. Wie üblich im fortschreitenden Alter, haben die meisten von uns die eine oder andere Beschwerde, die uns in den Ruhestand begleitet. Unser Freund hat zwei Brüder, die beide gesundheitliche Probleme haben, von denen einer stark depressiv ist und während der Covid-Krise ängstlich reagiert hat, und dessen Frau ebenfalls in Sorge ist, dass sie sich mit Covid infizieren könnten. Der andere Bruder ist weit weg und meldet sich nicht, aber wenn er sich meldet, fühlt sich unseren Freund indirekt für seinen christlichen Glauben kritisiert denn sein Bruder beklagt sich, dass das Leben für ihn und so viele andere ein Kampf ist. Dies veranlasste ihm, uns mitzuteilen, dass er wegen seinen Brüdern frustriert ist und fängt an sich zu fragen, dass, wenn sie nicht in Kontakt bleiben, warum er es tun sollte.
Das brachte mich zum Nachdenken. Ich freue mich, sagen zu können, dass meine Brüder und ich, obwohl wir noch weiter voneinander entfernt sind, den Kontakt aufrechterhalten haben – nicht so sehr während der Jahre, in denen wir berufstätig waren, aber umso mehr mit Freude, als wir uns trafen. Ich habe nichts von Frustration gehört, sondern eher von dem Gefühl, dass wir jetzt Zeit und Grund haben, in Kontakt zu bleiben, obwohl auch wir das eine oder andere gesundheitliches Problem haben, die unser normales Tempo unterbrochen haben, und uns verlangsamt und nachdenklicher gemacht. Wenn ich mit einem meiner Brüder spreche, werde ich daran erinnert, die Dinge aus dem Blickwinkel des anderen zu betrachten und zu bedenken, wie sich der andere fühlt. Das habe ich auch vor vielen Jahren gelernt, als ich in der Pflege anfing, aber damals schon musste ich feststellen, dass nicht jeder eine Antenne für diese Lektion hatte. Später, als ich zu unterrichten begann, sagte ich zu meinen Pflegekräften: „Stellen Sie sich vor, wie es ist, wenn man geschwächt ist, Hilfe bei den grundlegenden Dingen des Lebens braucht und jeden Morgen mit einem hochnäsigen jungen Menschen konfrontiert wird, der kein Einfühlungsvermögen hat.“ Ich denke, indem ich dabei eine Prise Humor einsetzte, dass sie alle die Botschaft verstanden haben.
Woran liegt es, dass eine Person für solche Lebenslektionen empfänglich ist und ein andere nicht? Ich denke, dass die Erziehung eine Rolle spielt und vielleicht auch die Gesellschaft, in der man lebt, aber da nicht jede Pflegekraft, die ich kannte, meine Botschaft verstehen konnte, lag es nicht an der Bildung. Bis zu einem gewissen Grad denke ich, dass es eine Frage ist, inwieweit wir die Möglichkeit hatten, aus unseren Fehlern zu lernen, ohne völlig zu scheitern, und ob wir die Fähigkeit besitzen, uns zu entwickeln, zu lernen zuzuhören und darüber nachzudenken, was man hört oder sieht. Ich habe in meiner Jugend viele Fehler gemacht, konnte aber ohne bleibende Wunden wieder aufstehen und weitermachen. Ich hatte viele Menschen, die mir geholfen haben, wieder auf die Beine zu kommen. Hinzu kommen die Lektionen, die man bekommt, in denen man sich um pflegebedürftige Menschen kümmert, vor allem, lernt man rücksichtsvoller zu sein. Ich hatte viele Lehrer, viele von ihnen Frauen, die längste Einfluss hat meine Frau, die mich immer noch unterrichtet. Männer waren seltener auf der Liste der Lehrer, aber es gab natürlich einige, aber die meisten von ihnen waren eher Beispiele für das, was ich nicht nachahmen wollte – aber sie waren perfekt als Spiegel für mich und zeigten mir, was ich sonst nicht in mir sehen konnte. Vor allem glaube ich, dass die meisten meiner Lehrerinnen und Lehrer im Leben, die etwas zu sagen hatten, irgendwann einmal verletzt worden sind, einige haben tiefe Enttäuschungen erlitten, andere wurden von Partnern genötigt oder haben brutales Mobbing erlebt.
Auf dem Basar traf ich zwei meiner ehemaligen Kollegen, Michael und Christine, die verheiratet sind und die ich seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Christine nahm mich sofort in den Arm – typisch für sie, nämlich eine der Personen, die ich als Lehrerin betrachtete, auch wenn ich ihr Vorgesetzter war. Wir sprachen nicht lange miteinander, denn die zeitliche Distanz stand zwischen uns, aber die spontane Verbindung erinnerte mich daran, wie wir damals beide leidend waren und unser Chef ein Choleriker war, der es zwar gut meinte, aber dazu neigte, das Leben schwer zu machen. Aber, ich habe mich gefragt, ob vielleicht das der Wert des Leidens ist: Bei allem Schmerz, den es verursacht, den Narben, die es hinterlässt, den schlaflosen Nächten, den Tränen, lehrt es uns, in unser Gegenüber hineinzuschauen und mit ihm zu fühlen. Vielleicht ist diese Lektion, die wir durch solche Erfahrungen lernen, so wertvoll, dass es sich lohnt, sie durchzustehen. Einige der älteren Menschen, die wir betreuten, haben dies angedeutet, so paradox wie wir ihre Worte auch fanden. Ich zögere noch immer bei dieser Vermutung, aber die Beweise scheinen da zu sein.
Natürlich gibt es die andere Seite. Wir müssen wir uns selbst schützen, und wir können den Schmerz nicht zu lange ertragen, ohne Gefahr zu laufen, verbittert zu werden, was oft auch die Lehre ist, die manche Menschen aus dem Leiden ziehen. Es ist auch sehr schwierig, wenn wir missbraucht worden sind, wieder zu vertrauen und empathisch zu sein. Der Sturz und der Niederlage, den wir manchmal mit tiefer Enttäuschung hinnehmen, obwohl wir vor Begeisterung engagiert waren, ist ein Loch, aus dem man nur schwer wieder herauskrabbeln kann. Oft brauchen wir jemanden als Rettungsanker, an dem wir uns festhalten können, um uns wieder herauszuziehen. Wir brauchen einen Zufluchtsort, an dem wir uns erholen und neue Kraft und Entschlossenheit zum Weitermachen schöpfen können. Ich glaube, wir brauchen vor allem das Gefühl, dass das Leben einen Sinn hat, den das Leid nicht zerstören kann, eine Bedeutung, die über das hinausgeht, was wir erleben. Das ist etwas, das oft als irrational, ja absurd angesehen wird, trotz des Leids um uns herum, dass mir noch absurder erscheint, wenn es keinen Sinn hat. Unser Leben ist alles in allem sehr paradox, und man muss kein Philosoph sein, um das zu erkennen. Manchmal genügt es, einem Gespräch im Auto zuzuhören – ein Zufall oder eine Gelegenheit, an den Punkt zurückzukehren, an dem Nachdenken über den Sinn wiederkehrt, nachdem er aus den Augen verloren wurde?
Ich glaube, dass wir viele Gelegenheiten haben, wenn wir sie nur wahrnehmen würden. Es muss klar sein, dass Individualismus oder Egozentrik nicht der Weg nach vorn sein kann, sondern das ist ein Weg zu Unverbundenheit und Inkonsequenz, die nur noch mehr Leid verursachen. Achtsam zu sein, nachdenklich und sich des Paradoxons bewusst zu sein, dass unser Gegenüber genauso durchmacht wie wir, könnte es wert sein, es sich zur Gewohnheit zu machen, und anstelle von Frustration könnte aus dem, was wir sehen, Mitgefühl entstehen, ja sogar eine Verbundenheit mit unserem Leidensgenossen. Es gibt einen Begriff, den ich schon einmal gehört habe und der vielleicht ein wenig veraltet ist, aber könnte „Nächstenliebe“ hier nicht von Bedeutung sein?
Ich habe von einem weisen Mann gehört, dass Nächstenliebe oder Liebe im Allgemeinen darin besteht, sich bewusst zu machen, dass man eins mit dem anderen ist und aus demselben zarten Gewebe gestrickt ist. Wir neigen sehr oft dazu, andere wegzustoßen oder sie zu benutzen, aber selten zeigen wir, wie verbunden wir sind. Dann macht es Sinn, selbst die Feinde in unsere Gedanken einzubeziehen, denn trotz aller äußerlichen Unterschiede sind wir tief im Inneren eins. Der weise Mann, von dem ich rede, Rupert Spira, sagte: Es wäre eine Entdeckung, die mit der Erkenntnis vergleichbar wäre, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, wenn die Menschheit lernen könnte, wie verbunden wir tatsächlich sind.