Jan Böhmermann oder sind wir verrückt geworden?

Es ist beunruhigend, heute die Nachrichten zu verfolgen oder sich im Internet auf dem Laufenden zu halten, denn man hat den Eindruck, dass die Welt aus den Fugen gerät. Die Zahl der radikalen Ansichten, die nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und in Zeitungen geäußert werden, lässt auf ein Chaos großen Ausmaßes schließen, ganz zu schweigen von den Krisen im Zusammenhang mit Umwelt- und Wirtschaftsfragen. In der Tat hat man das Gefühl, dass echte Probleme, die echte Menschen betreffen, auf der Strecke bleiben und Randgruppen ins Rampenlicht gedrängt werden, die ein schillerndes, unzusammenhängendes Durcheinander als wichtigstes Thema des Tages präsentieren.

Vielleicht ist es irgendwie attraktiv, in eine liberale Gesellschaft Randgruppen zu unterstützen und zu behaupten, dass sie von so etwas wie einem Holocaust bedroht sind, aber diese Behauptung angesichts echter und dringender Probleme aufzustellen, bedeutet, die Darstellung der Welt zu verzerren. Es ist besonders schrecklich, die Menschen zu ignorieren, die wirklich in Kriegen leben, unter autoritären Regimen leiden, oder die systematische Unterdrückung von Frauen zu ignorieren, oder das Schicksal von Menschen, die hungern und frieren, unter Gräueltaten zu leiden haben zu übersehen, weil eine bunte Figur sich unterdrückt „fühlt“ oder beleidigt ist, weil seine gewählten Pronomen ignoriert werden. Die Energie, die aufgewendet wird, um den Menschen eine radikal integrative Gesellschaft aufzuzwingen, damit bizarre Trends als normal angesehen werden können, ist ein Schlag ins Gesicht der „normalen“ Menschen, die seit Jahrzehnten ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten.

Dies ist keine Aufforderung, Menschen, die nicht konform sind, zu missachten, aber es ist eine Aufforderung, die Dinge ins rechte Licht zu rücken. Für mich ist der Westen dabei, genau das zu gefährden, was ihn so wertvoll macht: den Individualismus, der eine Vielfalt von Möglichkeiten, eine breite Palette von Optionen und die Fähigkeit, seine Meinung zu sagen, fördert. Trotz des vermeintlichen Zusammenhalts, den kollektivistische Gesellschaften schätzen, haben wir gesehen, wie Individuen von kollektivistischen Regimen in Russland und China behandelt, entfernt, beseitigt und eingesperrt werden, und wie ganze Bevölkerungen verhungern können, wie in Nordkorea. Unsere Individualität ist wertvoll, aber sie hat ihre Grenzen, vor allem dann, wenn sie rein nihilistisch und egozentrisch wird und ein Land in zwei Teile spaltet – tragisch, wenn sie durch marginale Fragen getrennt sind.

Beim Schutz von Minderheiten geht es darum, ihnen den Menschenrechten anzuerkennen, unabhängig von Rasse, Geschlecht, Nationalität, ethnischer Zugehörigkeit, Sprache, Religion oder einem anderen Status. Es geht auch um Inklusion, aber im Sinne einer absoluten Integration, d.h. eines allgemeinen Zusammenhalts zwischen allen Gruppen. Dies kann nur funktionieren, wenn gegenseitige Akzeptanz herrscht. Es wird nicht funktionieren, wenn die Identität einer Gruppe darauf beruht, durch ein Verhalten, das von der Mehrheit als schädlich angesehen wird, zu provozieren. Es muss ein gemeinsames Verständnis dafür geben, was für alle Mitglieder der Gesellschaft nützlich ist und was nicht.

In Großbritannien wurde 2016 ein großer Fehler begangen, als das Referendum über den Brexit fast 50:50 ausfiel, was offensichtlich bedeutet, dass das Land in seinen Ansichten gespalten war. Es hätte eine Untersuchung in Auftrag gegeben werden müssen, wie beide Seiten zu einer gemeinsamen Politik für den künftigen Umgang mit der EU kommen können. Es gab mehrere Möglichkeiten, aber stattdessen wurde es wie ein Fußballergebnis behandelt, bei dem eine Seite knapp gewonnen hat und das war’s. Dies scheint zunehmend der Ansatz zu sein, nicht nur von Politikern, sondern von Gruppen im Allgemeinen, wenn es um öffentliche Debatten geht – die dann nicht stattfinden. Heutzutage ist dies sogar die Politik der Debattenzentren. Die Universitäten bringen historische, biologische, kulturelle und politische Meinungen zum Schweigen, wenn sie nicht populär sind oder wenn eine oppositionelle Gruppe laut genug schreit, unabhängig von der Wissenschaft, die dahintersteht.

Die Unterhaltungsindustrie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Öffentlichkeit über Inklusion aufzuklären, indem sie Menschen mit unterschiedlichem ethnischen Hintergrund Hauptrollen in klassischen Werken gibt, selbst wenn die Auswahl wenig Sinn ergibt. Kürzlich beschloss Amazons Ringe der Macht, eine „bessere“ Version des „Herr der Ringe“-Prequels zu machen, indem sie neue Charaktere einführte, aber auch die Hauptfiguren veränderte, um ihrer Agenda zu entsprechen. Das Problem, das ich damit habe, ist, dass sie, obwohl sie die Möglichkeit hatten, verschiedene ethnische Gruppen einzubeziehen, indem sie sie als Gruppen innerhalb der Geschichte identifizierten, sie sich dafür entschieden haben, jede Gruppe multiethnisch zu machen, was der modernen Gesellschaft ähnelt, was das quasi prähistorische Setting der Geschichte eindeutig nicht ist. Die Tatsache, dass die Erfüllung ihrer Agenda im Kontext der Geschichte nicht kohärent war, ist typisch für diese Art von Propaganda und wurde gebührend kritisiert.

Langsam kann ich mich dem neuesten Programm von Jan Böhmermann zuwenden. Ein weiteres Beispiel für Inkohärenz ist nämlich die derzeitige soziale Kontagion von jungen Menschen in der Anglosphäre, die davon überzeugt sind, im falschen Körper geboren zu sein. Abgesehen von der Frage, wie junge Menschen angesichts ihrer mangelnden Erfahrung oder ihres fehlenden Wissens darüber, was es bedeutet, dem anderen Geschlecht anzugehören, auf eine solche Idee kommen können, hat es noch nie eine Behandlung für einen dysphorischen Zustand gegeben, die die Meinung des Patienten bestätigt hätte, ganz zu schweigen von einer aggressiven medikamentösen oder gar chirurgischen Behandlung, die für eine psychiatrische Störung bei Kindern mit vorpubertärer Verwirrung vorgeschlagen wurde. Gerade weil Ärzte in einer kapitalistischen Gesellschaft die Gelegenheit ergreifen würden, Geld zu verdienen, ist es gut, dass in Deutschland unsere Gesellschaft die Verantwortung, Kinder vor unüberlegten Entscheidungen zu schützen, die nachhaltige Auswirkungen haben, wahrnimmt.

Aber in diesem Zusammenhang ist auch die Diskussion über „Trans-Rechte“ zu sehen, die aus irgendeinem Grund von anderen Menschenrechten wie den Rechten von Frauen, Kindern, gleichgeschlechtlich orientierten Menschen oder anderen unterschieden werden. Plötzlich muss das Wort „Frau“ so umdefiniert werden, dass es auch Männer einschließt, wodurch die Geschlechtertrennung für Frauen aufgehoben wird und biologische Männer in Frauensportarten, Vergewaltigungsschutzeinrichtungen Zugang haben und eine Reihe anderer Eingriffe in den Schutz von Frauen und Mädchen zugelassen werden. Für einige schutzbedürftige Frauen und Mädchen in Englischsprachigen Länder wurde die Welt auf den Kopf gestellt, und sie mit Menschen mit typisch männlichem Verhalten und Genitalien konfrontiert wurden, die sich auf ekelhafte Weise zur Schau stellten und die bereits am Boden zerstörten Schutzsuchenden traumatisierten. Zu allem Überfluss wurden diese auch noch der Transphobie bezichtigt und aufgefordert zu gehen.

Diese Inkohärenz zeigt sich in vielen Versuchen post-moderne Kritiker, ebenfalls die traditionellen Formen der Kunst, der Philosophie und der sozialen Organisation, die die industrielle Welt und ihre Konventionen widerspiegeln, zu überwinden, was an sich akzeptabel und möglicherweise höchst notwendig ist, aber sie neigen dazu, der Mehrheit der Menschen den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Die politischen Parteien und Gruppierungen, die für eine Änderung der großen Politiken eintreten, gefährden diese Ziele durch solchen radikalen Ansatz. Ein großer Teil der Wählerschaft ist in seinen Ansichten konservativ, denn die Mehrheit ist älter, und große Veränderungen brauchen Zeit. Wenn diese Veränderungen so radikal und weitreichend sind, dass sie ihnen Dinge aufzwingen, die ihre Vorstellungen von dem, was gut und gesund ist, angreifen, sind die Chancen auf Akzeptanz viel geringer.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass vieles von dem, was wir sehen, eine nihilistische Zurschaustellung ist, eine Zurschaustellung von bewusst unkonventioneller und kompromissloser Kritik, der es an Konstruktivität fehlt. Ich höre oft die Frage nach dem Warum. Warum muss es vor allem anders sein? Welchen Sinn hat es, das Akzeptierte so radikal zu verändern? Es gibt viele Gründe für Veränderungen: die mangelnde Ausgewogenheit in Wirtschafts- und Umweltfragen, die demografische Entwicklung, die fehlende Gleichstellung der Geschlechter, das Nord-Süd-Gefälle, bessere technische Lösungen, der Klimawandel und vieles mehr. Aber bei allen politischen Maßnahmen zu diesen Themen sollte es möglich sein, zu verstehen, was die Vertreter zu erreichen versuchen, wenn nicht sogar, um Unterstützung für diese Maßnahmen zu gewinnen.

Die Probleme, die ich hier aufgezählt habe, sind nur einige von ihnen, und es scheint, dass eine neue Generation diesen radikalen Ansatz gewählt hat, um das zu bekämpfen, was sie als inhärente Probleme ansieht. Ich denke, was ihnen fehlt, ist ein Verständnis für die ganzheitliche Entwicklung der Gesellschaft, wonach die Phasen der sozialen Ordnung, die wir in der Geschichte durchlaufen haben, auch eine Entsprechung in der persönlichen Entwicklung haben. Jeder von uns neigt dazu, diese Phasen zu durchlaufen und die Fehler zu machen, die frühere Generationen gemacht haben, wenn auch – hoffentlich – ohne die Konsequenzen. Aus jeder Phase kann man eine Lehre ziehen, aber sie stattdessen zu „canceln“ – aus dem Gedächtnis zu streichen – gefährdet nur die Lektion, die es zu lernen gilt. Vielmehr muss es unser Bestreben sein, die gesamte menschliche Weisheit in eine neue, im Entstehen begriffene Weltanschauung zu integrieren, die in der Lage ist, die Lehren aller früheren Weltanschauungen aufzunehmen, einschließlich derjenigen, die historisch gesehen im Widerspruch zueinanderstanden: Wissenschaft und Religion, östliche und westliche Denkschulen, vormoderne, moderne und postmoderne Weltanschauungen. Das erscheint mir eine bessere Alternative als die Gültigkeit jeglicher Seins-, Erkenntnis-, Wert- und Gesellschaftsordnung zu verneinen.

Das ist eine große Aufgabe, aber ich denke, wir haben schon genug Schaden durch Abkürzungen angerichtet. Es gibt Dinge, die nicht warten können, aber manche Dinge haben einen Vorrang, den sie nicht verdienen. Dazu gehören Verschwörungstheorien über Angriffe auf Minderheiten und das Skandieren über streitbare Themen, um bloß die Gesellschaft zu spalten – oder um nur seine Fangemeinde zu gefallen. Wir müssen aufpassen, welcher Wirkung einen Zugriff auf einem Publikum hat, wenn man solches betreibe. Es ist, meine ich, ein großes Problem in unsere mediale Gesellschaft.

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