
Der Zerfall aufhalten
Das größte Problem Europas ist nicht das Vergessen, sondern das Eingeständnis: Wir leben im Schatten der großen Untaten und profitieren bis heute von ihnen. Das britische Imperium, das Frankreich und Spanien im Wettstreit um Kolonien herausforderte, die Niederlande und Belgien mit ihren kleineren, aber nicht minder brutalen Unternehmungen – und schließlich Deutschland, das zwar spät, aber umso ehrgeiziger eine Weltmachtrolle anstrebte – sie alle hinterließen nicht nur verbrannte Erde in fremden Ländern, sondern auch Wohlstand daheim. Ganze Bevölkerungen lebten mit und von dieser Ausbeutung – ob wir es wahrhaben wollten oder nicht.
Nach 1945 setzte sich dieses Muster unter neuer Regie fort. Amerika übernahm, was Europa im Blutrausch verspielt hatte. Deutschland, gedemütigt, geteilt und überwacht, erhielt die Chance zum Wiederaufstieg – nicht aus Gnade, sondern aus Kalkül. Ein prosperierendes Westdeutschland sollte zum Schaufenster des Kapitalismus werden, ein glänzendes Gegenmodell zum grauen Osten. Die Bundesrepublik durfte Exportweltmeister werden, durfte Wohlstand anhäufen und sogar sozialdemokratische Experimente wagen – aber nur, solange sie den Beweis lieferte, dass Freiheit und Markt dem Kommunismus überlegen waren. Als die Sowjetunion zerbrach, wurde dieser Auftrag obsolet. Zurück blieb die nüchterne Erkenntnis: Deutschland ist und war abhängig von Amerika – politisch, militärisch und wirtschaftlich.
In diese Lage hinein wurde die Europäische Union geboren – aus der Sehnsucht nach Frieden und der Einsicht, dass ein drittes Blutbad den Kontinent vollends zerstören würde. 1951 begann man klein und fast technokratisch mit Kohle und Stahl. Sechs Staaten verbanden ihre Rüstungsgrundlagen, um sie zugleich zu neutralisieren. Daraus wuchs die Vision eines vereinten Europas, getragen von der Hoffnung, dass gemeinsame Märkte auch gemeinsame Schicksale schaffen würden.
1993, mit dem Vertrag von Maastricht, trat die Union endgültig aus dem Schatten ihrer Vorläufer. Sie erklärte, mehr sein zu wollen als ein Wirtschaftsverbund, nämlich eine politische Kraft und eine Stimme in der Welt. Doch noch immer ringt sie mit den alten Geistern: dem Nationalismus, der Souveränität und der Abhängigkeit.
So schaut Europa heute in zwei Spiegeln: Im einen erkennt es seine koloniale und kriegerische Vergangenheit, von der es lebt, die es jedoch verdrängt. Im anderen sieht es die Gegenwart, in der es Wohlstand und Einheit preist, während es unter dem amerikanischen Schutzschirm verharrt. Die eigentliche Frage bleibt jedoch unbeantwortet: Kann ein Kontinent, der sich aus Schuld und Abhängigkeit speist, jemals wirklich souverän und frei werden?
Eine Entwicklung mit angezogener Handbremse
Die Europäische Union hatte von Anfang an eine britische Beteiligung, die weniger von europäischem Idealismus als von Skepsis und Vorbehalten geprägt war. Großbritannien trat der Gemeinschaft nicht als überzeugter Partner bei, sondern als Wächter – noch benommen vom Rausch seiner romantisierten imperialen Vergangenheit und zugleich als Stellvertreter der neuen Ordnungsmacht in Washington. London sah sich nicht als Teil eines künftigen europäischen Bundesstaates, sondern als Vermittler und Aufpasser, der sicherstellen sollte, dass kein Projekt der „Vereinigten Staaten von Europa“ Gestalt annehmen konnte.
Während auf dem Kontinent Kräfte am Werk waren, die von einer politischen Union träumten, bestand die britische Rolle darin, diese Träume zu dämpfen und die europäische Integration auf wirtschaftliche Kooperation zu begrenzen. Die Insel blieb das „Atlantische Scharnier“: halb Europa, halb Amerika, aber immer mit einem Bein im Schatten des nicht sterben wollenden Empires. In dieser Funktion wirkte Großbritannien wie ein eingebautes Sicherheitsventil: Es ließ Europa zusammenwachsen, aber nie so weit, dass daraus ein eigenständiger Machtblock hätte entstehen können, der Washington Konkurrenz gemacht hätte.
Damit wurde schon früh ein Muster zementiert. Die EU entwickelte sich nicht zur föderalen Union nach amerikanischem Vorbild, sondern zu einem komplexen Geflecht nationaler Interessen, das von Anfang an eine Obergrenze hatte. Diese Obergrenze lag dort, wo die Souveränität der Mitgliedstaaten und die Interessen der USA berührt wurden. Großbritannien war der Garant dafür, dass diese Grenze nicht überschritten wurde. Mit dem Brexit fiel dieser Wächter weg, doch an die Stelle neuer Freiheit trat keine Einheit, sondern ein Europa, das seine Abhängigkeit von außen schmerzhaft deutlicher spürt als zuvor.
Den Nationalisten in Frankreich und Deutschland war es stets ein Dorn im Auge, dass ihre Länder keine unangefochtene Führung in Europa übernehmen konnten. Sie träumten von einem Alleingang, von der Rückkehr nationaler Größe. Doch dieser Weg wurde bislang immer durch das europäische Projekt und die amerikanische Vormachtstellung blockiert. Jetzt aber, da sich die USA wieder stärker ihrer alten Tradition des Isolationismus besinnen und ihr Augenmerk vermehrt auf die nördlichen und südlichen Kontinente richten, wittern die Nationalisten ihre Chance. Sie deuten das Nachlassen amerikanischer Präsenz als Einladung, selbst aufzustehen und Europa nach eigenen Vorstellungen neu zu ordnen – notfalls auch jenseits des Rahmens der Europäischen Union.
So schleicht sich die alte Versuchung zurück, Europa nicht als gemeinsames Haus, sondern als Arena konkurrierender Nationen zu betrachten. In dieser Logik erscheint die Suche nach „neuen Alliierten“ nicht mehr als Tabubruch, sondern als pragmatischer Schritt zur Wiedergewinnung nationaler Souveränität und Macht. Was für die einen wie ein Aufbruch klingt, ist für andere nichts anderes als die Wiederkehr der Geister, die Europa schon zweimal ins Verderben gestürzt haben.
Schwarz-Weiß-Denken
Das eigentliche Problem, das lange Zeit verschwiegen oder verharmlost wurde, liegt im schwarz-weißen Denken Europas: Der Westen galt als das Reich der Guten, der Osten als Hort des Bösen. Diese vereinfachte Weltdeutung war bequem, solange der Kalte Krieg andauerte und die USA als „reicher Onkel“ den Wiederaufbau finanzierten und militärischen Schutz garantierten. Doch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion veränderte sich die Lage grundlegend. Washington sah Europa nicht länger als Schützling, sondern zunehmend als potenziellen Konkurrenten – wirtschaftlich wie politisch.
Dieses Umdenken kam nicht über Nacht. Schon mit dem Fall der Mauer zeichnete sich eine Verschiebung ab. Das strategische Ziel war erreicht, die Sowjetunion war besiegt und das ideologische Schaufenster war geschlossen. Was blieb, war die nüchterne Interessenpolitik einer Weltmacht, die keine gleichrangigen Partner neben sich duldet. Dies wurde erst mit Donald Trumps „America First“-Politik offenkundig sichtbar, die die alten Gewissheiten brutal beiseiteräumte. Doch in Wahrheit war Trump nur der grobe Ausdruck einer Linie, die längst eingeschlagen wurde: Die USA wollen ein emanzipiertes Europa nicht akzeptieren, sondern ein Europa, das eingebunden, abhängig und kontrollierbar ist.
Somit zeigt sich heute, dass die alte Schwarz-Weiß-Logik nicht nur naiv, sondern auch gefährlich war. Wer Europa für „den Westen“ hielt, übersah, dass es dabei nie um Gleichheit, sondern immer um Hierarchie ging – und dass der Platz Europas in dieser Ordnung längst festgelegt war.
Die gegenwärtige Belastung Europas durch den Krieg in der Ukraine ist nicht allein Ergebnis geopolitischer Zwänge, sondern geht maßgeblich auf das strategische Bestreben der USA zurück. Hinzu kommt die permanente Forderung, Israel vorbehaltlos zu unterstützen, einen Staat, der in der Region wie eine amerikanische Kolonie auftritt und seine Macht rücksichtslos behauptet. Für die friedensgewohnten Europäer wirkt diese Doppelbelastung wie ein Zwangsdienst, dem sie sich nicht entziehen können.
Europa erlebt damit eine Politik der doppelten Maßstäbe: Einerseits soll es die Ukraine als Opfer eines Angriffs unterstützen, um den Westen als Verteidiger von Freiheit und Souveränität zu präsentieren. Andererseits wird Europa in die Pflicht genommen, an der Seite Israels zu stehen – eines Staates, der selbst zum Aggressor wird. Kritik an dessen Handeln ist unter dem Banner historischer Schuld und der sogenannten „Staatsraison“ tabuisiert. Zwischen diesen beiden Polen – Opfer und Täter, Solidarität und Komplizenschaft – schwankt die europäische Politik.
Das Ergebnis ist eine tiefe Verunsicherung: Europa sieht sich in eine Rolle gedrängt, die nicht aus eigener Überzeugung, sondern aus äußeren Vorgaben erwächst. Es kämpft nicht um seine eigenen Werte, sondern um die Wahrung eines von Washington bestimmten Bündnisses. So entsteht der bittere Eindruck, dass Europa nicht Akteur, sondern Statist in einem geopolitischen Drama ist, dessen Drehbuch anderswo geschrieben wird.
Verlust des Ansehens
Zudem schwindet der Einfluss Europas im Ausland spürbar. Während Russland und China unter dem Banner der BRICS-Staaten erfolgreich eine Gegenmacht zum Westen aufbauen und die Vorherrschaft des Dollars infrage stellen, geraten die Europäer in eine ungemütliche Doppelrolle: In vielen Teilen der Welt erscheinen sie zugleich als ehemalige Kolonialherren und heutige Vasallen der Amerikaner. Diese Wahrnehmung ist fatal, denn sie beraubt Europa seiner moralischen Glaubwürdigkeit.
Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika, die sich den BRICS anschließen oder sich ihnen annähern, erinnern Europa nur allzu gern an seine koloniale Vergangenheit, an Raub, Unterdrückung und Ausbeutung. Zugleich sehen sie, wie wenig eigenständig der alte Kontinent in der Gegenwart agiert und wie sehr er sich sicherheitspolitisch und wirtschaftlich an Washington bindet. Das daraus entstehende Bild ist das eines alternden Kontinents, der mit der einen Hand vom Wohlstand vergangener Untaten lebt und mit der anderen Hand den Interessen einer fremden Macht dient.
So droht Europa, die Rechnung seiner Geschichte präsentiert zu bekommen: Nicht in Form von Tribunalen oder Reparationen, sondern als schleichender Verlust an Einfluss, Respekt und politischem Gewicht. Während neue Allianzen entstehen und andere Kontinente ihre Stimme erheben, droht Europa auf die Rolle eines zahnlosen Tigers reduziert zu werden: ein stolzes Tier, dessen Stärke zwar noch durch die Gitter seines goldenen Käfigs blitzt, das aber längst seiner Kraft beraubt ist. Es stolziert hin und her, selbstgefällig in seiner vermeintlichen Zivilisiertheit, doch unfähig, in der Welt jenseits der Stäbe Ehrfurcht oder Bewunderung zu erwecken.
Der goldene Käfig ist dabei kein Gefängnis von außen, sondern ein selbstgewähltes: Wohlstand, Bequemlichkeit und das ewige Beschwören von Werten, die im Ernstfall kaum verteidigt werden. So glänzt Europa im Inneren, nach außen aber verliert es jede Wirksamkeit. Und während es sich seiner dekorativen Rolle hingibt, wird anderswo bereits über seine Zukunft entschieden.
Die Neue Weltordnung
Als ob all dies nicht schon problematisch genug wäre, erleben wir gegenwärtig das Aufstehen der Oligarchen – und zwar nicht nur in Russland, sondern nahezu überall. Ermutigt durch das Beispiel Donald Trumps, streben sie offen danach, politische Kontrolle mit ökonomischer Macht zu verknüpfen. Diese Entwicklung kommt nicht überraschend: Der amerikanische Präsident zeigte sich unverhohlen beeindruckt von den autoritären Strukturen Putins, die auf eine enge Symbiose zwischen Machtapparat und Milliardären setzen. Putin hält seine Oligarchen zwar streng an der Leine, doch zugleich stützen sie ihn, indem sie ihm das finanzielle Rückgrat seiner Herrschaft sichern.
Im Westen hingegen, vor allem in den USA, ist die ökonomische Macht der Oligarchen weitaus größer als in Russland – und ihre politische Einflussnahme subtiler, aber nicht minder wirksam. Lobbyismus, Wahlkampfspenden, mediale Netzwerke: All dies verschafft ihnen eine Macht, die demokratische Institutionen aushöhlt und Politik zu einem Spiel der Finanzeliten macht. Während in Russland der Staat die Oligarchen diszipliniert, scheint es im Westen zunehmend umgekehrt: Die Politik folgt den Interessen der Superreichen.
Zugleich haben russische Oligarchen längst selbst Einfluss im Westen gewonnen. Großbritannien wurde über Jahre hinweg zu einem Sammelbecken für russisches Kapital, das sich in Immobilien, Banken und selbst in politische Netzwerke einschrieb. Auch in Teilen Europas zeigt sich diese Durchdringung – ein stilles, aber wirksames Mittel, geopolitische Macht über das ökonomische Hinterzimmer auszuüben.
So entsteht eine paradoxe Situation: Der Westen, der sich selbst gern als Bollwerk der Demokratie inszeniert, öffnet bereitwillig seine Türen für jene, die eben diese Demokratie von innen heraus aushöhlen. Kritiker sehen darin nichts weniger als eine Rückkehr zu feudalistischen Strukturen – nur dass an die Stelle der alten Aristokratie nun eine Klasse von Oligarchen tritt, die ihren Reichtum in politische Macht ummünzt. Es ist eine neue Form des „Erbadels“, nur ohne Herkunft, ohne Tradition, allein legitimiert durch Kapital.
Diese Entwicklung erinnert fatal an die Staatsformen, die Aristoteles beschrieb: Wo die Herrschaft des Volkes korrumpiert, verwandelt sie sich nicht in Freiheit, sondern in Oligarchie. Und genau dieser negative Pol scheint heute Gestalt anzunehmen. Statt einer lebendigen Demokratie erleben wir die Herausbildung einer ökonomischen Aristokratie, die sich selbst absichert, Netzwerke knüpft und staatliche Institutionen zu Werkzeugen ihrer Interessen macht.
So droht die freiheitliche Ordnung des Westens, in ihr Gegenteil umzuschlagen: in eine postmoderne Feudalgesellschaft, in der die Bürger nur noch Untertanen im Schachspiel der Reichen sind. Dieses Risiko wird vielerorts noch nicht erkannt, und wo der Vergleich angestellt wird, erfolgt umgehend heftigstes Dementi. Doch die Richtung ist klar vorgegeben, und bislang gibt es kaum wirksame Abwehr – selbst von Parteien, die sich früher sozialdemokratisch nannten. Seit der Ära Blair, in der viele sozialdemokratische Parteien politische Modelle von Thatcher übernahmen, lassen sich Unterschiede zu konservativen, bürgerlichen Kräften kaum noch erkennen. Die ehemals politischen Gegenpole scheinen sich in einem gemeinsamen Feld neoliberaler Steuerung aufgelöst zu haben, das den Reichen Tür und Tor öffnet.
Was tun?
Es gibt nur einen Ausweg aus dieser Misere, bevor die demokratische Grundordnung gänzlich zerfällt: Die Bürger Europas müssen sich neu organisieren und die Demokratie zurückerobern, bevor sie zu einem leeren Wort wird. Es geht nicht um bloße Teilnahme an Wahlen, sondern um die Schaffung lebendiger, inklusiver Strukturen – Gewerkschaften, neue Parteien, zivilgesellschaftliche Initiativen –, die allen gesellschaftlichen Gruppen, von Arbeitern bis zu Frauen, echte Mitsprache und politische Gleichheit ermöglichen.
Ein besonders drängender Aspekt ist die wirtschaftliche Ungleichheit: Immer wieder hören wir, dass es an Geld für Infrastruktur, Bildung und Zukunftsinvestitionen fehlt, während große Konzerne Milliarden an Profit einfahren – oft dank der Unterstützung der Staaten in Krisenzeiten. Die Rechnung ist simpel: Ein solidarischer Beitrag dieser Konzerne durch eine Reichensteuer im Milliardenbereich würde von ihnen kaum gespürt, könnte aber der Gesellschaft erheblich helfen, dringend notwendige Investitionen zu finanzieren und die demokratische Stabilität zu sichern.
Die Wiederbelebung sozialdemokratischer, feministischer und inklusiver Bewegungen ist daher kein nostalgischer Rückgriff, sondern eine dringende Notwendigkeit. Europa braucht neue Volksbewegungen, die sich der Re-Demokratisierung verschreiben, soziale Gerechtigkeit einfordern und die politische Macht aus den Händen wirtschaftlich Mächtiger zurückholen. Nur so kann die Bevölkerung Kontrolle über Parlamente gewinnen und verhindern, dass die politische Bühne zum Spielplatz der Oligarchen wird.
Die Zeit drängt. Europa darf nicht länger ein stolzer, zahnloser Tiger im goldenen Käfig sein, ein Kontinent, der zwar glänzt, aber unfähig ist, eigene Entscheidungen zu treffen. Die Demokratie lebt nur, wenn ihre Bürger handeln, sie einfordern und verteidigen. Wer dies versäumt, wird eines Tages zusehen müssen, wie ein Europa der Bequemlichkeit und Abhängigkeit, ein Museum seiner eigenen Werte, zu einer Kulisse der Machtspiele anderer wird. Der goldene Käfig mag glänzen, doch ohne Engagement bleibt er ein Käfig – und Europa bleibt gefangen.