Aufarbeitung der „unrühmlichen Geschichte“.

Gelegentlich geht es mir – wie vielen anderen auch – auf die Nerven, wenn Geschichten ausgegraben und aufgewärmt werden, die sich vor siebzig oder gar hundert Jahren ereignet haben. Was haben sie mit mir oder meiner Generation zu tun, frage ich mich? Ich war doch damals noch gar nicht geboren, sagen andere. Man hat das Gefühl, dass all die Dinge, die sich seither verbessert haben, ignoriert werden und die geleistete Arbeit außer Acht gelassen wird. Das Problem bei dieser Sichtweise ist, dass die Menschen, die das Opfer waren, noch immer die Narben tragen oder in Armut leben, während sich für die Täter nicht viel geändert hat – wenn überhaupt. Von Europa aus wagten es die Nationen, in See zu stechen und die Welt zu entdecken, aber auch Länder zu erobern, zu kolonisieren und zu plündern und sich dabei zivilisiert zu nennen. Moralische Maßstäbe, die angeblich in Europa galten, wurden benutzt, um die indigenen Völker als „Wilde“ abzustempeln, aber in vielen Fällen nicht als Maßstab für das eigene Verhalten herangezogen. Und, zeitlich näher gelegen, gibt es auch heute noch Menschen, die die eintätowierten Nummern, die ihnen in den Konzentrationslagern zugewiesen wurden, und die Erinnerungen an ihr Leiden tragen.

Vor einigen Jahren stand ein deutscher Politiker, Alexander Gauland, auf einer Veranstaltung der Jungen Alternative für Deutschland und nannte die Verbrechen seines Landes in der Nachfolge Hitlers und der Nazis „nur einen Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ und leugnete das geschehene Unrecht völlig. Stattdessen begann seine Partei eine Diskussion darüber, wie viele andere Nationen Unrecht begangen haben, wie zum Beispiel in der französischen Geschichte mit Napoleons Angriffskriegen, den spanischen, britischen und französischen Kolonialverbrechen. Leider klingt eine solche Diskussion wie ein Saufgelage im Club der alten Männer, bei dem sich die Anwesenden lachend gegenseitig ihre Untaten vorwerfen, am Ende aber die Kneipe verlassen, um sich gegenseitig auf die Schulter zu klopfen und zu umarmen.

Ein Pastor, den ich kannte, hatte daraufhin ein treffendes Gleichnis für die Beschwerden der Menschen, die aus den nach dem Krieg an Polen abgetretenen Gebieten vertrieben worden waren: „Wenn Papa sich betrinkt und Haus und Hof verspielt, habe ich keinen Anspruch mehr auf den ehemaligen Besitz.“ Geschichte hat Folgen, und Deutschland hatte Glück, nicht noch mehr zu verlieren. Bereits während des Zweiten Weltkriegs waren Reparationsforderungen gestellt worden, aber die Alliierten konnten sich auf der Konferenz von Jalta nicht auf die Gesamtsumme einigen. Im Jahr 1946 wurden gemäß dem Pariser Reparationsabkommen vom 14. Januar 1946 deutsche Auslandsvermögen, Devisenbestände, Warenzeichen und Patente beschlagnahmt. Als die Reparationen 1953 für beendet erklärt wurden, hatte die Sowjetische Besatzungszone bzw. die DDR die höchsten Reparationszahlungen des 20. Jahrhunderts geleistet. Und das zu Recht.

Im Jahr 2011 hat sich Deutschland für die Kolonialverbrechen im heutigen Namibia entschuldigt und Hilfsprojekte finanziert. Allerdings hatte es mehr als hundert Jahre gedauert, bis das Verbrechen der deutschen Kolonialmacht in Namibia anerkannt wurde. Am 28. Mai erkannte die deutsche Regierung die an den Volksgruppen der Herero und Nama begangenen Gräueltaten als Völkermord an und bezeichnete sie als solchen. Aber auch Belgien herrschte über den heutigen Kongo, allerdings auf so brutale Weise, dass selbst die anderen Kolonialmächte der damaligen Zeit entsetzt waren. Auch Italien entschuldigte sich offiziell für seine kolonialen Verbrechen in Nordafrika in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts während eines Besuchs des damaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi in Libyen im Jahr 2008. Berlusconi vereinbarte mit dem damaligen libyschen Machthaber Muammar Gaddafi, vier Milliarden Euro für Infrastrukturprojekte zu zahlen.[i]

Portugiesische Seeleute sind als Pioniere des transatlantischen Sklavenhandels bekannt. Viele Portugiesen sind bis heute stolz auf die Kühnheit der frühen Seefahrer und verschließen die Augen vor deren Brutalität. Das Land klammerte sich auch lange Zeit an seine besetzten Gebiete: Angola wurde erst 1975 befreit. Im Jahr 2020 zahlten die Niederlande zum ersten Mal Entschädigungen an die Opfer der kolonialen Gewalt durch niederländische Truppen in Indonesien. An ihre direkten Nachkommen wurden jedoch nur geringe Summen gezahlt. Während eines Besuchs in Afrika im Jahr 2017, rief der französische Präsident Emmanuel Macron zur Versöhnung zwischen den ehemaligen Kolonialmächten und den kolonisierten Ländern auf, lehnte aber finanzielle Entschädigungen ab. In einem Fernsehinterview sagte er, es wäre „lächerlich“, wenn Frankreich „Unterstützung oder Entschädigung“ für die Kolonialzeit zahlen würde.

Die Sklaverei war früher völlig legal, wurde aber 1807 im Vereinigten Königreich abgeschafft. Erst ein Vierteljahrhundert später wurde die Sklaverei im gesamten britischen Empire durch die Verabschiedung eines Gesetzes namens Slavery Abolition Act im Jahr 1833 abgeschafft. Zu diesem Zeitpunkt erhielten die Sklavenhalter von der britischen Regierung Geld, um sie für den Verlust ihrer Sklaven zu entschädigen, die damals als „Eigentum“ betrachtet wurden. Das Gesetz zur Abschaffung der Sklaverei legte den Betrag fest, den die britische Staatskasse an die 3.000 Familien, die Sklaven besessen hatten, zahlen sollte, der sich schließlich auf etwa 20 Millionen Pfund belief. Aber die ehemaligen Sklaven bekamen kein Geld für all die Arbeit, die sie in der Sklavenarbeit geleistet hatten, für ihre Unfreiheit und für die schrecklichen Bedingungen, unter denen sie gelitten hatten.

Zu ihrer Verteidigung ermächtigte das Sklavenhandelsgesetz von 1845 die Marine, mutmaßliche Sklavenschiffe wie Piraten zu behandeln, was innerhalb von fünf Jahren zur Kaperung von vierhundert Schiffen führte. Ende der 1840er Jahre gab es fünfunddreißig Patrouillenschiffe zur Bekämpfung der Sklavenhaltung vor Westafrika.

In vielerlei Hinsicht war der Kolonialismus der Vergangenheit eher eine imperiale Struktur als eine Politik, was sich daran zeigt, dass sich die koloniale Politik je nach gesellschaftlichen Veränderungen und Situationen änderte, die kolonialen Strukturen jedoch intakt blieben. Der Kolonialismus wies auch eine Reihe von Widersprüchen auf, insbesondere den Widerspruch zwischen regressiven und progressiven Ereignissen. Mit anderen Worten, man kann sagen, dass die allgemeine Wirkung der kolonialen Ausbeutung regressiv war, aber manchmal erschien der Fortschritt als unbeabsichtigtes Nebenprodukt. Die europäischen Staaten versuchten in der Regel, den indigenen Völkern der von ihnen kolonisierten Länder ihre Religion, Sprache, kulturellen und politischen Praktiken aufzuzwingen, und die Konfiszierung und Zerstörung von Land und Kultur der Indigenen war üblich. Infolge der kombinierten Auswirkungen von Kolonialismus und Imperialismus wurden viele indigene Völker versklavt, ermordet oder starben an Krankheiten und Hunger. Unzählige andere wurden aus ihrer Heimat vertrieben und über den ganzen Globus verstreut. Schließlich begann jedoch um 1914 eine internationale Periode der Dekolonisierung, die die europäischen Kolonialreiche bis 1975 herausforderte. Widerstand war schon immer ein fester Bestandteil der Geschichte des Kolonialismus, und schon vor der Entkolonialisierung leisteten indigene Völker auf allen Kontinenten gewaltsamen oder gewaltlosen Widerstand gegen ihre Eroberer.[ii]

Heute ist Europa als Zusammenschluss dieser ehemaligen Kolonialmächte, mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs seit dem Brexit, sehr fortschrittlich und viele Städte werden als die schönsten Orte zum Leben ausgezeichnet, aber es verlässt sich auf seinen Zusammenhalt und profitiert immer noch von den Reichtümern, die es aus den ehemaligen Kolonien, die arme Länder geblieben sind, gewonnen hat. Viele ehemalige Kolonien litten erstens darunter, dass die natürlichen Strukturen ihrer ursprünglichen Gesellschaften mitunter gewaltsam zerstört wurden, und zweitens darunter, dass die Besatzungsmächte abzogen und ein Chaos hinterließen. In Afrika kämpften in der Folge Kriegsherren um die Macht und unterdrückten die Bevölkerung; Afrika ist auch der am stärksten von HIV/AIDS betroffene Kontinent. Die durchschnittliche Lebenserwartung einer afrikanischen Frau liegt bei 61,9 Jahren, die eines afrikanischen Mannes bei 58,6 Jahren. Das ist weit weniger als auf anderen Kontinenten.

Im Jahr 2021 veröffentlichte das International Consortium of Investigative Journalists die „Pandora Papers“, das bisher größte Leck in Bezug auf so genannte Steuerparadiese, welche Auszüge aus den Finanzunterlagen einiger sehr prominenter und wohlhabender Personen aus der ganzen Welt und deren zuvor verborgenen Reichtum enthüllte. Zuvor waren bereits zwölf Millionen Akten geleakt worden, die deren Offshore-Geschäfte enthüllten. Was Afrika und seinen Bedarf an Infrastruktur betrifft, so leiden die Menschen dort immer noch unter einem hohen Maß an Unterentwicklung, obwohl ihre Länder endlose Kreditforderungen der reichen Länder erfüllen müssen. Die Enthüllungen, dass etwa fünfzig afrikanische Bürger[iii] damit begonnen haben, Geld vom Kontinent zu nehmen und es an geheimen Orten zu verstecken, um zur Entwicklung anderer Länder auf Kosten ihrer eigenen beizutragen, erklärt, warum die afrikanischen Länder immer noch so weit zurückliegen, obwohl ihre Regierungen eine Politik verfolgen, die die Bevölkerung in wirtschaftliche Schwierigkeiten bringt.[iv]

Um zu beweisen, wie umfangreich der Markt für Offshore-Konten ist, wurden nach Angaben der Offshore Company über 32 Milliarden Dollar auf Offshore-Konten angelegt.[v]  Eine Studie aus dem Jahr 2017 zeigt, dass die Zahl der Reichen in Afrika wächst. Allerdings sind die 300 Reichsten der Schweiz nur wenig ärmer als alle afrikanischen Millionäre zusammen. Über 40.000 Millionäre stammen aus Afrika, die meisten davon aus Südafrika, gefolgt von Ägypten, Nigeria, Ruanda und dem Kongo, wobei Genf und andere europäische Städte zu beliebten Zweitwohnsitzen werden. Bis 2026 wird die Zahl der Millionäre auf dem Kontinent voraussichtlich um mehr als ein Drittel ansteigen.[vi]

Diese Situation wird durch die kapitalistischen Strukturen begünstigt, die heute in allen Industrieländern vorhanden sind (unabhängig davon, ob sie offiziell noch als kommunistisch gelten oder nicht), und sie stellen eine langfristige Bedrohung für die Länder dar, die früher Kolonialmächte waren. Die europäischen Länder bieten nach wie vor Finanzdienstleistungen an und erweisen sich somit als nützlich, aber die Rechte der Arbeitnehmer in Europa werden von den Konkurrenten als untragbar angesehen, insbesondere von Großbritannien, das deshalb die EU verlassen hat. Es bleibt abzuwarten, ob die EU zusammenhält und ob die Länder in der Lage sein werden, ihre derzeitige Haltung gegenüber den Reparationsforderungen der ehemaligen Kolonien zu verteidigen. Die Welt verändert sich rasant, und vieles, was vermeintlich stabil war, ist bereits ins Wanken geraten. Für die ehemaligen Kolonisten könnte es ratsam sein, sich noch einmal mit der Kolonialzeit zu befassen, vor allem bevor diese ehemaligen Kolonien an Einfluss gewinnen.


[i] https://www.dw.com/de/reparationen-f%C3%BCr-koloniale-verbrechen-zahlen-und-schweigen/a-57718348

[ii] https://www.thoughtco.com/colonialism-definition-and-examples-5112779

[iii] https://lejournaldelafrique.com/de/Pandora-Papiere%2C-die-Afrikaner-betreffen/

[iv] https://www.bbc.com/news/world-58780561

[v] https://www.offshorecompany.com/banking/offshore-account/

[vi] https://www.handelszeitung.ch/panorama/reiche-afrikaner-wo-sie-leben-und-ihr-geld-ausgeben

Lektionen, die das Leben lehrt

Ich war mit meiner Frau und einem Freund unterwegs und wir kamen ins Gespräch über unsere Geschwister. Wie üblich im fortschreitenden Alter, haben die meisten von uns die eine oder andere Beschwerde, die uns in den Ruhestand begleitet. Unser Freund hat zwei Brüder, die beide gesundheitliche Probleme haben, von denen einer stark depressiv ist und während der Covid-Krise ängstlich reagiert hat, und dessen Frau ebenfalls in Sorge ist, dass sie sich mit Covid infizieren könnten. Der andere Bruder ist weit weg und meldet sich nicht, aber wenn er sich meldet, fühlt sich unseren Freund indirekt für seinen christlichen Glauben kritisiert denn sein Bruder beklagt sich, dass das Leben für ihn und so viele andere ein Kampf ist. Dies veranlasste ihm, uns mitzuteilen, dass er wegen seinen Brüdern frustriert ist und fängt an sich zu fragen, dass, wenn sie nicht in Kontakt bleiben, warum er es tun sollte.

Das brachte mich zum Nachdenken. Ich freue mich, sagen zu können, dass meine Brüder und ich, obwohl wir noch weiter voneinander entfernt sind, den Kontakt aufrechterhalten haben – nicht so sehr während der Jahre, in denen wir berufstätig waren, aber umso mehr mit Freude, als wir uns trafen. Ich habe nichts von Frustration gehört, sondern eher von dem Gefühl, dass wir jetzt Zeit und Grund haben, in Kontakt zu bleiben, obwohl auch wir das eine oder andere gesundheitliches Problem haben, die unser normales Tempo unterbrochen haben, und uns verlangsamt und nachdenklicher gemacht. Wenn ich mit einem meiner Brüder spreche, werde ich daran erinnert, die Dinge aus dem Blickwinkel des anderen zu betrachten und zu bedenken, wie sich der andere fühlt. Das habe ich auch vor vielen Jahren gelernt, als ich in der Pflege anfing, aber damals schon musste ich feststellen, dass nicht jeder eine Antenne für diese Lektion hatte. Später, als ich zu unterrichten begann, sagte ich zu meinen Pflegekräften: „Stellen Sie sich vor, wie es ist, wenn man geschwächt ist, Hilfe bei den grundlegenden Dingen des Lebens braucht und jeden Morgen mit einem hochnäsigen jungen Menschen konfrontiert wird, der kein Einfühlungsvermögen hat.“ Ich denke, indem ich dabei eine Prise Humor einsetzte, dass sie alle die Botschaft verstanden haben.

Woran liegt es, dass eine Person für solche Lebenslektionen empfänglich ist und ein andere nicht? Ich denke, dass die Erziehung eine Rolle spielt und vielleicht auch die Gesellschaft, in der man lebt, aber da nicht jede Pflegekraft, die ich kannte, meine Botschaft verstehen konnte, lag es nicht an der Bildung. Bis zu einem gewissen Grad denke ich, dass es eine Frage ist, inwieweit wir die Möglichkeit hatten, aus unseren Fehlern zu lernen, ohne völlig zu scheitern, und ob wir die Fähigkeit besitzen, uns zu entwickeln, zu lernen zuzuhören und darüber nachzudenken, was man hört oder sieht. Ich habe in meiner Jugend viele Fehler gemacht, konnte aber ohne bleibende Wunden wieder aufstehen und weitermachen. Ich hatte viele Menschen, die mir geholfen haben, wieder auf die Beine zu kommen. Hinzu kommen die Lektionen, die man bekommt, in denen man sich um pflegebedürftige Menschen kümmert, vor allem, lernt man rücksichtsvoller zu sein. Ich hatte viele Lehrer, viele von ihnen Frauen, die längste Einfluss hat meine Frau, die mich immer noch unterrichtet. Männer waren seltener auf der Liste der Lehrer, aber es gab natürlich einige, aber die meisten von ihnen waren eher Beispiele für das, was ich nicht nachahmen wollte – aber sie waren perfekt als Spiegel für mich und zeigten mir, was ich sonst nicht in mir sehen konnte. Vor allem glaube ich, dass die meisten meiner Lehrerinnen und Lehrer im Leben, die etwas zu sagen hatten, irgendwann einmal verletzt worden sind, einige haben tiefe Enttäuschungen erlitten, andere wurden von Partnern genötigt oder haben brutales Mobbing erlebt.

Auf dem Basar traf ich zwei meiner ehemaligen Kollegen, Michael und Christine, die verheiratet sind und die ich seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Christine nahm mich sofort in den Arm – typisch für sie, nämlich eine der Personen, die ich als Lehrerin betrachtete, auch wenn ich ihr Vorgesetzter war. Wir sprachen nicht lange miteinander, denn die zeitliche Distanz stand zwischen uns, aber die spontane Verbindung erinnerte mich daran, wie wir damals beide leidend waren und unser Chef ein Choleriker war, der es zwar gut meinte, aber dazu neigte, das Leben schwer zu machen. Aber, ich habe mich gefragt, ob vielleicht das der Wert des Leidens ist: Bei allem Schmerz, den es verursacht, den Narben, die es hinterlässt, den schlaflosen Nächten, den Tränen, lehrt es uns, in unser Gegenüber hineinzuschauen und mit ihm zu fühlen. Vielleicht ist diese Lektion, die wir durch solche Erfahrungen lernen, so wertvoll, dass es sich lohnt, sie durchzustehen. Einige der älteren Menschen, die wir betreuten, haben dies angedeutet, so paradox wie wir ihre Worte auch fanden. Ich zögere noch immer bei dieser Vermutung, aber die Beweise scheinen da zu sein.

Natürlich gibt es die andere Seite. Wir müssen wir uns selbst schützen, und wir können den Schmerz nicht zu lange ertragen, ohne Gefahr zu laufen, verbittert zu werden, was oft auch die Lehre ist, die manche Menschen aus dem Leiden ziehen. Es ist auch sehr schwierig, wenn wir missbraucht worden sind, wieder zu vertrauen und empathisch zu sein. Der Sturz und der Niederlage, den wir manchmal mit tiefer Enttäuschung hinnehmen, obwohl wir vor Begeisterung engagiert waren, ist ein Loch, aus dem man nur schwer wieder herauskrabbeln kann. Oft brauchen wir jemanden als Rettungsanker, an dem wir uns festhalten können, um uns wieder herauszuziehen. Wir brauchen einen Zufluchtsort, an dem wir uns erholen und neue Kraft und Entschlossenheit zum Weitermachen schöpfen können. Ich glaube, wir brauchen vor allem das Gefühl, dass das Leben einen Sinn hat, den das Leid nicht zerstören kann, eine Bedeutung, die über das hinausgeht, was wir erleben. Das ist etwas, das oft als irrational, ja absurd angesehen wird, trotz des Leids um uns herum, dass mir noch absurder erscheint, wenn es keinen Sinn hat. Unser Leben ist alles in allem sehr paradox, und man muss kein Philosoph sein, um das zu erkennen. Manchmal genügt es, einem Gespräch im Auto zuzuhören – ein Zufall oder eine Gelegenheit, an den Punkt zurückzukehren, an dem Nachdenken über den Sinn wiederkehrt, nachdem er aus den Augen verloren wurde?

Ich glaube, dass wir viele Gelegenheiten haben, wenn wir sie nur wahrnehmen würden. Es muss klar sein, dass Individualismus oder Egozentrik nicht der Weg nach vorn sein kann, sondern das ist ein Weg zu Unverbundenheit und Inkonsequenz, die nur noch mehr Leid verursachen. Achtsam zu sein, nachdenklich und sich des Paradoxons bewusst zu sein, dass unser Gegenüber genauso durchmacht wie wir, könnte es wert sein, es sich zur Gewohnheit zu machen, und anstelle von Frustration könnte aus dem, was wir sehen, Mitgefühl entstehen, ja sogar eine Verbundenheit mit unserem Leidensgenossen. Es gibt einen Begriff, den ich schon einmal gehört habe und der vielleicht ein wenig veraltet ist, aber könnte „Nächstenliebe“ hier nicht von Bedeutung sein?

Ich habe von einem weisen Mann gehört, dass Nächstenliebe oder Liebe im Allgemeinen darin besteht, sich bewusst zu machen, dass man eins mit dem anderen ist und aus demselben zarten Gewebe gestrickt ist. Wir neigen sehr oft dazu, andere wegzustoßen oder sie zu benutzen, aber selten zeigen wir, wie verbunden wir sind. Dann macht es Sinn, selbst die Feinde in unsere Gedanken einzubeziehen, denn trotz aller äußerlichen Unterschiede sind wir tief im Inneren eins. Der weise Mann, von dem ich rede, Rupert Spira, sagte: Es wäre eine Entdeckung, die mit der Erkenntnis vergleichbar wäre, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, wenn die Menschheit lernen könnte, wie verbunden wir tatsächlich sind.

Rollenspiel

Es gibt ein blasses Schwarz-Weiß-Foto von mir als Vierjährigem, der in den 1950er Jahren als Cowboy verkleidet allein im Garten spielt. Damals hatten wir viele Stereotypen als Vorbilder, und wir hatten noch keinen Fernseher, dafür aber ein Samstagmorgenkino, in dem wir The Lone Ranger und Batman in Filmen zum Teil aus den 1930er Jahren sahen. Damals kostete der Eintritt in England „thruppence“[i], drei Pennies, und wir hielten die kleine zwölfeckige Münze in der verschwitzten Hand, bis wir unsere Eintrittskarte erhielten. Ich erinnere mich, dass ich einmal die Münze verloren hatte, und am Boden zerstört nach Hause kam. Ich liebte es, mich zu verkleiden, und es gab nicht die Sorge um die „kulturelle Aneignung“, die heute wegen Winnetou ins Gespräch gebracht wurde.

Für uns als Kinder ist es ganz normal, zu spielen, uns zu verkleiden und so zu tun, als wären wir andere Menschen, aber wir neigen dazu, die Tatsache zu verdrängen, dass wir dies auch als Erwachsene weiterhin tun, wenn auch auf mehr oder weniger diskrete Art und Weise. Die heutigen „Influencer“ sind für viele junge Menschen wichtig, aber auch ältere Menschen haben ihre Vorbilder, die sie unbewusst nachahmen, seien es Figuren aus Film und Fernsehen oder andere prominente Persönlichkeiten. Von Vorbildern, die uns am meisten beeindruckt haben, entwickeln wir einen Kleidungs- und Verhaltensstil, von dem wir annehmen, dass er unser eigener ist, aber bei näherem Nachdenken wird klar, dass wir nur einen Stil imitiert haben.

Viele Dinge hinterlassen in der Kindheit einen Eindruck, der sich später im Leben auswirkt, und unangenehme Erinnerungen werden verdrängt, obwohl der Einfluss vorhanden ist. Vorlieben und Abneigungen sind oft unbewusste Entscheidungen, die auf vergangenen Erfahrungen beruhen, an die wir uns erst erinnern, wenn wir sie suchen, aber manchmal sind unsere Entscheidungen Störungen, die auf Befürchtungen und Ängsten beruhen und zu Phobien führen können. Meine Frau erinnert sich an die Geburt ihres Bruders, die zu Hause stattfand, woraufhin sie sich im Alter von 13 Jahren schwor, niemals Kinder zu bekommen. Dieses Erlebnis führte dazu, dass sie die ganze Prozedur verabscheute, und erst als wir schon einige Jahre verheiratet waren, kam der Wunsch auf, Kinder zu bekommen. Ich hatte als Kind ein unangenehmes Erlebnis in der Nacht auf einem Pfadfinderausflug, das mich sehr misstrauisch gegenüber Männern machte, auch gegenüber meinem Vater, vor allem, nachdem ich ihn betrunken erlebt hatte – obwohl es selten, wenn überhaupt, wieder vorkam. Ich entwickelte ein Verhalten, bei dem ich unbewusst die Dinge ablehnte, die ich mit Männern verband, und stattdessen die Gesellschaft von Mädchen suchte.

Wir sind oft in der Lage, solche Erfahrungen zu überwinden, auch wenn es manchmal Zeit braucht, und so vergessen wir sie, verdrängen sie aus unserer Erinnerung und berücksichtigen sie nicht, wenn wir das Verhalten anderer beobachten. Als Einzelgänger und Beobachter habe ich viel nachgedacht und solche Erfahrungen nicht so schnell vergessen. Meine Vermutung, dass es sich bei den Auswirkungen unserer Erinnerungen um etwas Alltägliches handelt, wurde von vielen meiner Freunde und Bekannten bestritten, nur um später gelegentlich durch unglückliche Umstände bestätigt zu werden. Mir wurde einmal gesagt, es sei unhöflich, so etwas auch nur anzudeuten, aber der Verdacht blieb, dass ich Recht hatte. Während meiner Ausbildung zum Altenpfleger weckten Kurse in Psychologie und Gerontopsychiatrie in mir die Überzeugung, dass ich mit meiner Erfahrung nicht allein bin, aber sie eröffneten mir auch das Verständnis dafür, warum Menschen sie ablehnen.

Deshalb habe ich den Eindruck, wenn ich die aktuelle Diskussion über das Gender-Durcheinander im englischsprachigen Raum verfolge und von den Gefühlen höre, von denen junge Menschen sagen, dass sie sie haben, dass die oben genannten Einflüsse auf junge Menschen einwirken, die Ängste und ein tiefes Gefühl des Unbehagens und der Unzufriedenheit hervorrufen, das zwanghaft werden kann. Die Verwendung des Begriffs Gender Dysphorie lässt zu oft außer Acht, dass das vorhergesagte, was Unbehagen hervorrufen kann, die mit der Zeit überwunden werden kann, insbesondere wenn es vor der Pubertät auftritt. Die Pubertät ist für viele Menschen ohnehin eine verwirrende Zeit, und wenn man bedenkt, welchen Einflüssen früher abgeschirmte Jugendliche heute ausgesetzt sind, darunter auch der Pornografie, kann der Eintritt ins Erwachsenenalter sehr beängstigend sein, insbesondere für junge Mädchen.

Die größte Sorge ist jedoch, dass es eine Industrie gibt, die diese Situation ausnutzen will, indem sie die „Affirmation“ (Bestätigung) als Mittel einsetzt, um Menschen mit den genannten Symptomen, die vor allem bei jungen Menschen mit nonkonformem Verhalten oder Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion vorzuherrschen scheinen, zusammenzutreiben und sie einer Behandlung mit systemischen Medikamenten und invasiven Eingriffen mit unklarem Ausgang zuzuführen. Ich habe von mehreren Menschen gehört, die in ihrer Jugend nonkonform waren oder Probleme mit der sozialen Interaktion hatten, zu denen ich mich auch zähle, die alle erwachsen geworden sind und ein normales Leben führen, ohne eine solche invasive Behandlung ausgesetzt zu sein, und die mit mir die Sorge teilen, dass diejenigen, die sich einer solchen Behandlung unterziehen, für ihr Leben geschädigt werden könnten. Die treibende Kraft der Industrie scheint wie immer die Aussicht auf Geld zu sein, während sie sich als Helfer von Menschen in Not darstellen.

In den sozialen Medien haben inzwischen eine ganze Reihe von Menschen, vor allem Männer, deren Liebe zum Verkleiden durch eine sexuelle Komponente verstärkt wird, versucht, sich den beschreibenden Begriff „Frau“ für ihr eigenes bevorzugtes Erscheinungsbild anzueignen, wobei sie zuweilen eine ernsthafte Entfremdung von der Realität an den Tag legen, indem sie von dem Wunsch ein Kind zu gebären oder die Wechseljahren durchleben sprechen, obwohl sie eine männliche Physiologie haben. Diese Männer, die früher als Transvestiten bezeichnet wurden, d. h. als Menschen, die Kleidung tragen, die in erster Linie mit dem anderen Geschlecht assoziiert wird, wollen uns glauben machen, dass sie ein inhärentes „Gefühl“ haben, eine Frau zu sein, dass sie für diese Bezeichnung qualifiziert. Es ist sogar behauptet worden, dass diese Männer, wie bei der Seelenwanderung, in einem früheren Leben Frauen waren. Leider ist für diese Männer die einfachste Lösung oft die beste, nämlich dass sie sich zwanghaft verstellen.

Das heißt aber nicht, dass wir nicht ein ernstes Problem haben. Ich denke, es ist offensichtlich, dass wir es hier mit einer sozialen Kontagion zu tun haben, ähnlich wie bei anderen Formen der Massenhysterie, z. B. der Junikäfer-Epidemie, den Tanzmanien im Mittelalter, dem Tarantismus, den „Epidemien“ von Selbstbeschneidung, Essstörungen und Selbstmorden[ii]. Es gibt auch Menschen, die unter Dysphorie leiden, was zu Depressionen und Selbstmordgedanken führt, und andere, die völlig wahnhaften Vorstellungen von sich selbst haben. Angesichts der allgemeinen Hysterie, die beispielsweise die Wahlen in den USA ausgelöst haben, oder der Sorge um den Klimawandel, der Sorge um einen dritten Weltkrieg und der Ausbreitung psychischer Erkrankungen, die auf Lebensstil und Armut zurückzuführen sind, müssen wir uns ernsthafte Fragen zu den Prioritäten unserer Gesellschaft stellen. Gleichzeitig verteidigen wir den Liberalismus und Individualismus, weil wir der Meinung sind, dass sich damit Probleme leichter lösen lassen. Die Frage ist, ob die Probleme, die wir lösen, größer sind als die, die wir schaffen.

Das Gute an Kindern, die spielen und sich verkleiden, ist, dass sie unter anderem versuchen, zu verstehen, was es heißt, erwachsen zu sein. Wenn wir älter werden, entdecken unsere Nachahmungsspiele andere Aspekte, die unsere Kinderspiele nicht aufgedeckt hatten, darunter die Vor- und Nachteile bestimmter Verhaltensweisen. Wann haben wir aufgehört, die Dinge auf diese Weise zu durchdenken, bevor wir Maßnahmen ergreifen, die wir vorher nicht ausprobiert haben? Wann haben wir angefangen, es einfach zu tun, ohne die Kosten zu bedenken? Wir haben eine große Zahl von Menschen, die auf der Strecke bleiben, die nicht mithalten können, die verloren, desorientiert, verzweifelt und hilflos sind. Es gibt keine Kinderspiele, die uns darauf vorbereiten, und es ist die Aufgabe eines Erwachsenen, diese Aufgabe in die Hand zu nehmen. Wann werden wir erwachsen?


[i] Das britische Threepence-Stück, meist einfach als Threepence, Thruppence oder Thruppenny Bit bezeichnet, war eine Stückelung der Sterling-Münzen im Wert von 1⁄80 eines Pfunds oder 1⁄4 eines Shillings.

[ii] https://www.psychologytoday.com/intl/blog/cutting-edge-leadership/202209/social-contagion-how-others-secretly-control-your-behavior

Die Welt wird durch Gehirnamputierte regiert

Nun, vielleicht klingt das übertrieben, und es handelt sich nicht wirklich um Amputierte, aber es gibt Anlass zur Sorge. Wer mit Hirnerkrankungen wie Apoplexie oder Schlaganfall vertraut ist, kennt auch das Phänomen des so genannten Neglects. Bei den meisten Neglect-Patienten ist die rechte Gehirnhälfte betroffen und die linke Seite hat eine eingeschränkte Wahrnehmung. Das Wort Neglect kommt vom lateinischen neglegere, was so viel bedeutet wie nicht wissen, missachten oder vernachlässigen, und in diesem Zustand kann sich die Missachtung auf Reize aller Sinne beziehen, insbesondere auf Reize auf der linken Seite des Raumes, und es ist üblich, dass sie ihre linke Körperseite als fremd empfinden. Der Arm gehört nicht zu ihnen, ist manchmal zu hören, und die Betroffenen sind sich ihrer Defizite meist nicht bewusst und nehmen ihr Verhalten zunächst als normal wahr.

Laut Iain McGilchrist, Psychiater, Schriftsteller und ehemaliger Oxford-Literaturwissenschaftler, kann der Mensch auch durch die gewohnheitsmäßige Aufgabe der rechtshemisphärischen Gehirnfunktionen eine Missachtung oder Vernachlässigung des größeren Zusammenhangs der Welt und sogar der unmittelbaren Umgebung entwickeln. Er erklärt, dass die gesunden Prozesse, die an unserer Wahrnehmung der Welt beteiligt sind, beide Gehirnhälften einbeziehen, und grob gesagt sorgt die rechte Hemisphäre für aufmerksames Schauen, ohne jedoch die Dinge im Detail wahrzunehmen. Bei der Beobachtung eines unbekannten Phänomens wird jedoch die linke Hemisphäre eingesetzt, um es zu identifizieren und ihm gegebenenfalls einen Namen zu geben. Diese Informationen gehen zurück in die rechte Hemisphäre, vervollständigen das Bild und stellen es in den allgemeinen Kontext.[i]

Bei dem Patienten mit Neglect ist der allgemeine Kontext verloren, nämlich das Zusammenspiel der linken und rechten Körperhälfte, und er sieht sogar nur die Hälfte dessen, was vor ihm liegt, so dass nur die rechte Hälfte eines Tellers geleert wird, ohne dass es dem Betroffenen komisch vorkommt. Wer gewohnheitsmäßig nur mit Details befasst, ohne sie in dem gesamten Zusammenhang zu sehen, kann im geistigen Sinn etwas ähnliches erreichen. Es ist bereits bekannt, dass der Menschen mit seinen Gewohnheiten die Plastizität seines Gehirns verändern kann, so dass es sichtbar wird. Neuroplastizität, auch bekannt als neuronale Plastizität oder Gehirnplastizität, ist ein Prozess, der adaptive strukturelle und funktionelle Veränderungen des Gehirns beinhaltet. Eine gute Definition ist „die Fähigkeit des Nervensystems, seine Aktivität als Reaktion auf intrinsische oder extrinsische Stimuli zu verändern, indem es seine Struktur, Funktionen oder Verbindungen umgestaltet“[ii]. So auch können Funktionen abgewöhnt werden, bis es dem Betroffenen nicht einmal auffällt.

McGilchrist behauptet, dass dies im Laufe der Geschichte immer wieder vorgekommen sei, vor allem dann, wenn Kulturen besonders engstirnig und kleinkariert geworden seien, oft gekennzeichnet durch den Verlust von Kreativität, die Vernachlässigung von Poesie und Kunst oder sogar die Verweigerung von Kunst und, seltsamerweise, die Erstellung von Listen und den Ausschluss von Andersdenkenden. Zeigt sich dagegen eine geisteswissenschaftliche Aufgeschlossenheit und wird die Vielschichtigkeit des Daseins dargestellt, kann man eher davon ausgehen, dass dahinter eine gesunde Gehirnfunktion steht, die beide Gehirnhälften mit einbezieht, die alles in einen großen Zusammenhang stellt.

Wenn man in die Welt hinausschaut, muss man feststellen, dass wir eher ein vernachlässigendes Verhalten sehen, insbesondere durch die gegenseitige Ablehnung Andersdenkender, oder die soziale Ausgrenzung von Personen oder Organisationen aufgrund von angeblich beleidigenden, diskriminierenden, rassistischen, antisemitischen, verschwörungsideologischen, kriegerischen, antisemitischer, verschwörungsideologischer, kriegerischer, frauenfeindlicher, homophober Äußerungen bzw. Handlungen, sowie die Beschränkung auf vermeintlich „rationale“ Argumente, die zwar sachlich rational, aber nicht vernünftig sind, weil sie den Gesamtzusammenhang außer Acht lassen. Wir erleben eine Entweder-Oder-Mentalität, auch in der Politik, die wenig auf Details achtet, sondern auf Schlagworte, die meist von den sozialen Medien getragen werden. In der englischsprachigen Welt geht es intensiv zu, aber im deutschsprachigen Raum haben wir die Angewohnheit, Entwicklungen aus der anglophonen Welt zu übernehmen.

Es wäre ungewöhnlich, wenn niemand davon profitieren würde, und im Moment ist der Ruf nach autoritären Antworten ziemlich weit verbreitet. Die durch den Konflikt in der Ukraine ausgelösten Spannungen tragen dazu bei, dass alle etwas gereizt sind und der Geduldsfaden schnell reißt. Die Einschränkungen, der Verzicht und vor allem die Angst vor einem Krieg verstärken diese Entwicklung, die Menschen protestieren wieder, die Emotionen kochen hoch. Das ist eine normale Reaktion, aber dahinter stehen jene Gruppen, die einen grundlegenden Wandel herbeiführen wollen, und die gibt es auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die die Konventionen abschaffen wollen, auf der anderen Seite diejenigen, die die Konventionen verschärfen wollen. Auf der eine Seite will man eine radikal inklusive Haltung, das Niederschlagen sozialer Grenzen, und auf den anderen Seiten will man vermeintliche Schutzräume ausbauen, und exklusive Zutritt lassen, wer als vertrauenswürdig geachtet wird.

Es ist diese irrationale Ausschließlichkeit, dass McGilchrist als vergleichbar mit Neglect ansieht, die Unfähigkeit, die Anliegen der anderen Seite zu sehen, geschweige denn zu verstehen. In der Neurologie wird der Patient immer wieder sein Arm aufgedruckt, der Teller gedreht, damit die andere Seite wahrgenommen wird, aber es ist einen pathologischen Zustand – das heißt es wird nicht besser. Die Neuroplastizität dagegen gibt uns bei dem „gesellschaftlichen Neglect“ die Hoffnung, dass es durch die Veränderung der Gewohnheiten doch verändert werden kann, Voraussetzung wird aber sein, dass wir Persönlichkeiten haben, die der anderen Seite, die wir vernachlässigen, immer wieder vorhalten, und nicht solche, die das Ganze noch verstärkt.

Meine Befürchtung zurzeit ist, dass wir immer wieder die „Gehirnamputierten,“ die der Situation verschlimmern, das Sagen. Vielleicht liegt es daran, dass unsere Wahrnehmung verschleiert ist, so dass wir es nicht bemerken können, aber wir müssen lernen beide Hälften des Gehirns wieder im Betrieb zu nehmen. Nur so kommen wir wieder im Gleichgewicht, merken das es mindesten zwei Seiten zu einer Geschichte gibt, und wer schreit hat Unrecht. Manchmal gibt es keine andere Möglichkeit als beide Sichtweisen zu akzeptieren und beide Raum geben, und die Diversität der Menschen als Chance zu begreifen. Alles uniform zu gestalten, gleich zu sehen oder gar zu schalten, rufen vergangene Tagen in Erinnerung, die wir nicht vergessen sollten, aber diese Ereignisse geschahen nicht nur in Nazi Deutschland, sondern auch in der Sowjetunion und Kommunist China – überall, wo strenge Vorgaben durch autoritäre Führer gemacht wurden, und der Vielfalt nicht erlaubt wurde.

Das dürfte die beste Beispiel für das sein, was wir nicht wollen.


[i] McGilchrist, Iain. The Matter With Things: Our Brains, Our Delusions and the Unmaking of the World (S.111). Perspectiva Press. Kindle-Version.

[ii] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32491743/

Eine Grundsätzliche Frage

Wir erleben viele Menschen heutzutage, die nicht mehr sich ausrechnen können, welche Konsequenzen bestimmtes Verhalten haben werden. Ich habe vor einige Wochen darübergeschrieben, dass der Begriff Freiheit heute anders verstanden wird als vor einige hundert Jahren, und dass die Garantien, die der Gesellschaft bietet, an Verpflichtungen gebunden sind. Es ist nicht anders, als wenn der Sohn die Schule verlässt und meint, dass er jetzt eine Pause haben muss von der Hetze des Schulalltags. Wir haben unser Sohn damals vorgehalten, dass er erwartet, dass seine Eltern für ihn arbeitet und er auf der faulen Haut legen kann, was ihn offensichtlich bis dahin nicht bewusst war. Er brauchte eine kurze Zeit, aber nach einer Weile, erkannte er seinen Fehler. Viele Menschen in unserer heutigen Zeit haben es noch nicht erfasst.

Jede Gruppe braucht das Verständnis, dass man zusammenhält, indem man zusammensteht, um die Herausforderungen der Zeit standzuhalten. Natürlich haben wir schutzbedürftige Menschen, die solche Verpflichtungen nicht nachkommen können, aber jeder soll das machen, was er kann. Es ist vor allem in Krisenzeiten von Bedeutung, dass die Werte einer Gesellschaft für alle klar sind, und jede Untergrabung diese Werte, ob von außen oder von innen, Einhalt geboten wird. Es ist anscheinend eine kniffelige Frage, wenn die Freiheit es selbst ist, die bedroht wird. Freiheiten, welche sowohl für Erwachsene als auch für Kinder als anerkannt gelten, sind allgemein bekannt als fundamentale Rechte, also Rechte, zu deren Genuss die Bevölkerung uneingeschränkt und ohne staatliche Einmischung berechtigt ist. Allerdings, die Notwendigkeit, die öffentliche Ordnung, die nationale Sicherheit, die moralischen Werte und die Achtung der Rechte unserer Mitmenschen aufrechtzuerhalten, führt zwangsläufig zu einer gewissen Einschränkung der ordnungsgemäßen Ausübung dieser Rechte.

Diese Beschränkungen werden in der Welt unterschiedlich angewandt, wobei sie in Ländern, in denen eine kollektivistische Philosophie zu Hause ist, strenger umgesetzt werden. Diese Philosophie wird als ein System von Werten und Normen verstanden, in dem das Wohl des Kollektivs höchste Priorität hat und die Interessen des Einzelnen denen der im Kollektiv organisierten sozialen Gruppe untergeordnet werden. Diese Sichtweise geht mit einer Ablehnung der Ideen des Liberalismus einher und zeigt sich aktuell im Konflikt mit Russland um die ehemaligen Staaten der Sowjetunion, die heute Teil der EU sind, sowie der Ukraine, die dies anstrebt, und mit China um Länder wie Taiwan und die ehemalige Sonderverwaltungszone Hongkong, die heute Teil der Volksrepublik China ist. Zurzeit ist der bewaffnete Konflikt in der Ukraine von viele im Westen als eine Bedrohung der westliche Liberalismus, was vor Kurzem in Russland als „satanisch“ bezeichnet wurde.

Es steht außer Frage, dass es im Westen einiges gibt, dass man kritisch sehen kann. Ich selbst habe die Vorherrschaft der Wirtschaftsmacht als „Maschine“ bezeichnet, die sowohl die Umwelt als auch die Gesundheit der Menschen bedroht. Der Klimawandel ist nur eine von vielen Folgen, die dabei eine Rolle spielen, wenn es um die Zukunft geht. Eine Grundordnung darf aber nicht aufgegeben werden, wie manche Aktivisten fordern, denn der Sturz in die Anarchie oder den Faschismus würde letztlich zu Chaos und keiner Verbesserung führen, denn die Wirtschaft sorgt auch für unsere physiologischen Bedürfnisse, und unsere Freiheit bedeutet auch die Freisetzung von Ideen zur Lösung von Problemen. Deshalb ist eine grundsätzliche Klärung der Werte im Westen notwendig, und die schädlichen Entwicklungen, die so viel Unruhe verursachen, müssen beruhigt werden.

Die Gesellschaften im Westen wurden auf religiöse und humanistische Werte aufgebaut, die auch im Laufe der Jahrhunderte sowohl ihre gute als auch schlechte Seiten gezeigt haben. Oft wurden diese Werte verraten, teilweise durch diejenigen, die sie aufgestellt haben. Nicht wenige „Revolutionen“ sind zum Nachteil ihrer Anhänger geworden, und das Zitat „Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder“ umschreibt eine solche Entwicklung, und ist dem französischen Revolutionär Pierre Vergniaud zugeordnet, der es bei seiner eigenen Hinrichtung am 31. Oktober 1793 gesagt haben soll. Alexander Solschenizyn beschrieb eindringlich, wie treue Kommunisten sich plötzlich als Konterrevolutionäre im Gulag befanden, weil sie Kritik geäußert haben, oder in dem Verdacht stand. Aber vor allem die Opfer der Kirche müssen bedacht werden, die bis heute immer noch aufgeklärt werden, und zu einer massenhaften Desillusionierung geführt hat, von der alle Kirchen betroffen wurden – vor allem in Europa. Es sind solche Entwicklungen, die dem Westen eine fehlende Geschlossenheit beschert, trotz aller Beteuerung der Politik.

Großbritannien und die USA, die bisherigen Bastionen der westlichen Freiheit, sind tief gespalten, und in vielen europäischen Ländern ist der Ruf nach Frieden, koste es, was es wolle, keine Seltenheit mehr. Die Proteste nehmen zu und Schwarz-Weiß-Denken macht sich breit – entweder „für oder gegen“, ohne differenziertes Denken. „Das Hemd ist mir näher als der Rock“ ist ein altes Sprichwort, das bedeutet, dass die eigenen Interessen wichtiger sind als die des anderen. Die Frage ist, ob es die Werte der Gesellschaft sind, die ich schützen will, oder meine Gewohnheiten – und ob diese Gewohnheiten dadurch geschützt sind, wenn ich mein Wille durchsetze. In Gesprächen mit anderen haben wir uns oft gefragt, ob manche Menschen überhaupt zu logischem Denken fähig sind, und vor allem, ob sie sich darüber im Klaren sind, wozu sie tun, was sie tun.

Deshalb denke ich, dass es eine grundlegende Frage ist: Welche Werte will ich schützen? Wofür lohnt es sich, zu arbeiten, sich gegen Bedrängung zu wehren und notfalls zu kämpfen? Es geht auch um die Frage, ob die Verantwortlichen in unserer Gesellschaft andere Werte als den Profit als schützenswert ansehen, denn es ist schon erwiesen, dass Profit nicht als höchstes Gut dient, und stattdessen Freiheit, Menschlichkeit oder Menschenrechte, aber auch abstrakt-individuelle Werte, wie zum Beispiel Gesundheit, Trinkwasser, Lebensqualität, Umwelt, Sicherheit, in der öffentliche Wertschätzung als „höchstes Gut“ gesehen bzw. bezeichnet werden. Es ist also von höchstem Priorität zu prüfen, wo sie gefährdet sind, und aktiv für ihre Erhaltung zu arbeiten.