Magie neu entdeckt – 1 – Abgeneigt

Ein älterer Mann reiste von seiner Heimatstadt Dortmund auf die Nordseeinsel Borkum, es war sommerlich und warm. Er hatte geplant, drei Wochen Entspannungstraining im Kurort zu absolvieren und bereute schon jetzt die Zugfahrt, die viel zu lange dauerte und ihn zweimal umsteigen musste. Der Regionalzug von Dortmund zum Emder Hauptbahnhof war der längste Teil der Reise. Von Emden aus musste er umsteigen in den Emder Hafen und von dort aus mit der Fähre nach Borkum. Die „Inselbahn“ bzw. „Borkumer Kleinbahn“, die den Hafen mit der Stadt Borkum und anderen Orten der Insel verbindet, ist ein charakteristisches Fortbewegungsmittel der Insel und verleiht dem Ort einen einzigartigen Charme. Für unseren Reisenden ging der Charme in einem Anfall von Ängstlichkeit verloren.

Bernd wurde im Alter von 72 Jahren Witwer, ohne Vorwarnung oder Vorbereitung. Er verfiel in eine Depression, ging in Therapie und entwickelte eine Angststörung, die dazu führte, dass er den Kontakt vermied, sogar am Telefon, und Freunde schickten ihm entweder Nachrichten oder E-Mails. Bernd hatte sein Auto für genug Geld verkauft, um sich ein E-Bike zu kaufen, und verbrachte seine Zeit damit, herumzufahren und Pausen einzulegen, um zu lesen oder zu zeichnen. Der mittlerweile 74-Jährige fuhr oft mit der Straßenbahn in die Stadt zur Bibliothek, was eine emotionale Herausforderung darstellte. Trotzdem schaffte er es und saß normalerweise mit einem Buch, einem Notizbuch und einer Kanne Tee in der Ecke. Diese Reise auf die Insel war seit dem Schock über den Tod seiner Frau mehr herausfordernd wie jede andere gewesen, und als der Zug durch das Watt fuhr, tauchte ihr Gesicht vor seinem geistigen Auge auf. Er erinnerte sich an einen Familienkur vor fünfzig Jahren mit ihren Kindern.

Der farbenfrohe Zug mit seinen nostalgischen, aber spärlich ausgestatteten Waggons war mit einer Geschwindigkeit von rund 50 Kilometern pro Stunde unterwegs. Nach einer gut 15–20-minütigen Fahrt erreichten sie den Bahnhof Borkum im Zentrum der Insel, die Endstation. Ein rotes Backsteingebäude kam in Sicht, und alle Reisenden sprangen auf und sammelten ihre Taschen und ihr Gepäck zusammen, sodass Bernd ihnen in seiner Angst den Vortritt ließ, da sie alle in Eile zu sein schienen. Sein Gepäck war vorausgeschickt worden, um Probleme beim Umsteigen zu vermeiden, aber es war kein Problem, die Sammelstelle zu finden. Anschließend ging er zu Fuß über die Deichstraße zum Nordsee-Hotel, 300 Meter vom Nordbadestrand, aber 30 Minuten vom Bahnhof entfernt. Andere zogen ihre Koffer hinter sich her und gingen ungefähr in die gleiche Richtung, also folgte er ihnen.

Bernd informierte sich im Zug über die Insel, um zu sehen, ob sich dort viel verändert war, und fand heraus, dass die Stadt Borkum eine lange Geschichte hatte, da sie bereits im Mittelalter besiedelt war und sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem beliebten Touristenziel entwickelte. Er erinnerte sich vage an die Besichtigung der verschiedenen historischen Gebäude und Wahrzeichen, die von der langen Geschichte der Insel zeugten, und das er wahrscheinlich hätte er damals mehr beeindruckt sein sollen. Beim aussuchen eines Ziels für seinem Kur, erinnerte er sich jedoch an das gesunde Nordseeklima der Insel.

Bald wurde die Gruppe kleiner, als alle ihre jeweiligen Unterkünfte erreichten und auch sein Hotel kam in Sicht, als sie am Park in der Wester Straße vorbeikamen. Bernd schwitzte bereits in der Sonne und auch die warme Brise, die über die Insel wehte, half nicht gerade. Obwohl er nach der Fahrt froh war, seine Beine bewegen zu können, wurde die Reisetasche, die er trug, langsam schwer und Bernd er schaute dankbar auf das Hotel, das er langsam näherte. Die Sonne schien heiß im Windschatten, als Bernd das Hotel von der Strandseite her betrat, und er fand einen Trolley für das Gepäck, auf dem er die Tasche abstellte und sich die schmerzende Schulter rieb. Zwei Familien checkten vor ihm ein, also wartete er ruhig in der Warteschlange, bis sie fertig waren.

Während er dort stand, dachte Bernd darüber nach, dass die Reise zuerst eine spontane Idee gewesen war, von der er nun das Gefühl hatte, dass sie zu sehr seine Routine unterbrochen hatte, die ihm bisher geholfen hatte, sein Leben weiterzuführen, und seine Angstgefühle ließen ihn die Reise bereuen. Während er zusah, wie sich das Einchecken vor ihm abspielte, beschloss er, die Therapie schnell hinter sich zu bringen und dann nach Hause zurückzukehren, wo er sich besser fühlte. Er war erleichtert, als eine Mitarbeiterin auf ihn zukam und ihn bat, zum Einchecken nach vorne zu kommen. Nach dem Einchecken wurde er mit seinem Gepäck auf sein Zimmer gebracht und nachdem er dem jungen Mann ein Trinkgeld gegeben hatte, inspizierte er sein Zimmer. Es war angenehm eingerichtet, aber klein, und er konnte sich vorstellen, dass er nicht viel Zeit darin verbringen würde. Als er das Fenster öffnete, war der Geruch der Meeresluft erfrischend. Das Geräusch der Möwen erinnerte ihn daran, wie weit er von zu Hause entfernt war. Er zog Schuhe und Jacke aus, fiel auf das Bett und schlief sofort ein.

Als er aufwachte, geriet er in Panik, wie er es seit dem Verlust seiner Frau so oft getan hatte. Die fremde Umgebung war noch fremder im Dunkel, und ihm wurde klar, dass er mehrere Stunden geschlafen hatte. Er war hungrig und beschloss, zur Promenade hinunterzulaufen, um zu sehen, ob es eine Möglichkeit gab, etwas zu essen zu bekommen, da das Hotel nur Frühstück servierte. Er wich den Menschengruppen aus, fand ein Restaurant in der Bismarckstraße und bestellte einen Snack. Nachdem er bezahlt hatte, lief er zum Leuchtturm und um die Nordseeklinik herum zu seinem Hotel, wo er mit seinem Lesegerät in der Bar saß und in seinen englischsprachigen Büchern blätterte. Unzufrieden beschloss er, am nächsten Tag nach seinem Therapietermin die ausgeschilderte Bibliothek aufzusuchen, die er auf dem Weg bemerkte, und zog sich dann in sein Zimmer zurück.

Herbstzauber

Ein vergänglicher Moment

An einem frühen Morgen des Frühherbstes machte ich mich auf den Weg zur Arbeit, fuhr südwärts in Richtung Ruhrtal und überquerte den Hügelrücken, den früheren Westfälischen Hellweg zwischen Rhein und Weser, eine wichtige Straße in Westfalen im Mittelalter. Da kam das Panorama in Sicht. Mittlerweile ist der Hellweg völlig überbaut, aber wenn man ihn an manche Stellen überquert, ist der Anblick der sanften Hügel, die ins etwa fünfzig Kilometer entfernte Mittelgebirgsgebiet Sauerland hineinrollen, atemberaubend. Dieser Morgen war besonders schön, denn der Himmel war klar, die Sonne schickte ein paar vorläufige Strahlen unterhalb des Horizonts und das Tal war von Nebelschwaden durchzogen.

Als ich ins Tal hinunter zum Fluss fuhr, spürte ich, dass dies ein besonderer Morgen war und ich mir Zeit nehmen musste, um herauszufinden, was meine Vorahnung mir sagte – was sollte ich sehen? Als ich mich der Brücke über den Fluss näherte, stoppte ich das Auto, parkte und stieg mit meiner Taschenkamera aus. Der Nebel rechts von mir tanzte zwischen den Bäumen, aber links begann ein verlockendes Spiel aus Schatten und Sonnenlicht, als die Sonne aufging, und ich rannte über die Straße auf einen Parkplatz zu, wo die Bäume nahe am Fluss standen. Die Sonnenstrahlen vermischten sich mit dem Nebel, der unnatürlich leuchtete, und inmitten dieses magischen Anblicks grasten Pferde und sahen aus wie Fabelwesen in einem Traum.

Ich fummelte an meiner Kamera herum, ohne darauf zu achten, wie sie eingestellt war und wie sie den Anblick einfing, sondern versuchte, die Aufregung des Erlebnisses zu kontrollieren. Ich war in diesem Moment allein und starrte auf ein flüchtiges Geheimnis, das im Begriff war, verloren zu gehen, und ich konnte nichts dagegen tun. Die Intensität der Sonne nahm zu, und das Leuchten umhüllte die gesamte Szene, sodass ich zurück zum Auto ging, verzehrt von der Schönheit der Vision. Aber am Auto blitzte mir ein Licht von der anderen Seite des Gebäudes entgegen, wo ein Bach an einer Scheune vorbeifloss. Als ich dort ankam, sah ich, wie sich das dampfende Wasser im Sonnenschein spiegelte und einen weiteren Traum entstehen ließ, der bald vergehen würde. Die vergängliche Schönheit war auf Film festgehalten worden, aber ich konnte das Erlebnis nicht weitergeben, außer in diesen wenigen unpassenden Worten.

Dieser Tag bei der Arbeit war irgendwie anders und der Zauber hielt an, bis ich später am Tag auf dem Heimweg an dem Ort vorbeikam und er verschwunden war.

Angelika

Müde Augen blickten mich von der Frau am Schreibtisch an, ihr Mangel an Enthusiasmus war verständlich, nachdem sie 12 Tage am Stück auf einem Wohnbereich mit zahlreichen bettlägerigen Bewohnern gearbeitet hatte, einige in der Palliativphase, die sich auf das Lebensende vorbereiteten, andere mit verschiedenen Stadien der Demenz, die ein hohes Maß an Aufmerksamkeit erforderten. Ich bat sie, eine weitere Schicht zu übernehmen, da es akut an Alternativen mangelte, das Personal gerade in einer Krankenwelle versunken war, die leider regelmäßig auftrat, und weil ich selbst am Wochenende arbeitete. Diesmal schien die Situation noch schlimmer zu sein, da keine Hilfe von anderen Stationen oder Häusern zur Verfügung stand. Ich wollte allen meinen Mitarbeitern die Last ersparen und scheiterte an die Wirklichkeit.

Angelika war eine besonders pflichtbewusste Wohnbereichsleiterin und hatte eine kurze Zeit als Pflegedienstleiterin gearbeitet, aber jetzt, mit fast 60 Jahren, strebte sie ihrer Rente entgegen und versuchte, den Tag zu überstehen. Sie wollte nicht weinen, aber ich spürte, dass es ihr geholfen hätte, wenn sie es könnte. Sie zögerte ihre Antwort hinaus, als ob sie hoffte, ich würde wie eine Erscheinung verschwinden, und das Wochenende würde kommen, und sie könnte sich entspannen. Langsam sagte sie: „Okay“, und obwohl ich sie gerne umarmt hätte, wusste ich, dass es aufgesetzt wirken würde. Stattdessen berührte ich ihre Schulter und sagte: „Danke“ und „Ich wünschte, ich hätte das verhindern können!“

Sie stand auf, holte tief Luft und sagte: „Es ist nicht Ihre Schuld, ich weiß, dass Sie sich bemühen …“, aber dass sie mich entschuldigte, machte die Situation noch schlimmer für mich. Ich verließ die Station und war innerlich erleichtert, eine Lösung für ein weiteres Problem gefunden zu haben. Ich war noch nicht lange Pflegedienstleiter in diesem Haus, aber als ich eine Situation vorfand, in der viele der Mitarbeiter 400 unbezahlte Überstunden leisteten und ich keine Möglichkeit hatten, sie zu bezahlen, wenn sie das wollten, hatte ich mich sofort an meinen Vorgesetzten gewandt und protestiert, dass er mich nicht über die Situation informiert hatte. Es war kein Wunder, dass die Mitarbeiter nicht mehr für andere, die krank waren, einspringen wollten, es sei denn, ich konnte ihnen einen freien Tag garantieren. Meine Versuche, Lösungen zu finden, wurden von den Mitarbeitern zwar anerkannt, aber einige resignierten und sagten: „Das kann man nicht ändern, das war schon immer so.“

Die Personalsituation war nicht das einzige Problem, mit dem ich konfrontiert war: Es gab eine Zunahme der Qualitätskontrollen und eine Fokussierung auf die Pflegeplanung, was dazu führte, dass das verfügbare Personal knapp wurde, damit die Schwestern die notwendigen Dokumentationen erstellen konnten. Viele von ihnen waren dieses Maß an Regulierung nicht gewohnt und hatten Probleme mit der Wortwahl und der Klarheit. Einige waren mit der Aufgabe hoffnungslos überfordert. Dies kam natürlich zu der belastenden Aufgabe hinzu, bettlägerige Menschen mit zahlreichen kognitiven Einschränkungen zu betreuen, samt medizinische Notfälle. Vor allem die vielen inkontinenten älteren Menschen, die regelmäßig auf die Toilette und sehr oft auch auf die Körperpflege danach angewiesen waren, machten die Schichten sehr anstrengend.

Der Tag ging weiter, und eine Aufgabe nach der anderen wurde erledigt, aber der Tag schien zu kurz, und die meisten von uns gingen müde nach Hause, aber überzeugt, etwas vergessen zu haben. So verliefen auch die nächsten beiden Tage, und am Samstag saß ich kurz vor der Heimreise an meinem Schreibtisch und sortierte die Aufgaben, die am Montag zu erledigen waren. Das Telefon läutete und ich sagte mir im Stillen: „Oh nein!“ in der Erwartung, dass sich die nächste Person krankmelden würde, aber als ich den Hörer abnahm, war zunächst nichts zu hören, bis plötzlich eine laute Frauenstimme rief: „Ist da der Pflegedienstleiter?“

Ich antwortete: „Ja, am Apparat.“

Die Stimme kam zurück: „Sie ist tot, wissen Sie!“

Ich war völlig verwirrt, weil ich dachte, dass sie von einer Bewohnerin sprach, die ins Krankenhaus verlegt worden war, „wen meinen Sie?“ fragte ich.

„Angelika! Sie ist tot. Sie ist einfach umgefallen und gestorben, ein Aneurysma, haben sie gesagt!“

Ich war fassungslos! Ich begann zu stottern, unfähig, einen vernünftigen Satz zu formulieren. „Ich, ich … weiß nicht, was ich sagen soll …“

„Ich kann mir vorstellen, dass sie das nicht wissen! Unsere Mutter hat alles gegeben. ‚Ich kann meinen Chef nicht im Stich lassen,‘ hat sie gesagt! Jetzt ist sie tot, was sagen Sie dazu?“

„Es gibt nichts, was ich sagen kann, außer dass es mir sehr, sehr leidtut,“ entgegnete ich.

„Das hilft aber auch nicht weiter, oder?“

Plötzlich war sie weg, und ich saß in absoluter Panik da, ein Gefühlschaos überkam mich, und ich zitterte. Eine riesige Welle von Schuldgefühlen überspülte mich, drohte mich zu ertränken, und ich rang nach Luft. Ich stand auf, ging im Büro umher und setzte mich wieder hin. Ich nahm den Hörer ab und legte ihn wieder hin. Ich hatte keine Antwort, keine Lösung, es war zu spät, die endgültige Niederlage hatte mich hilflos gemacht. Ich dachte, ich konnte es niemandem im Gebäude sagen, denn dann wäre die vorhandene Notbesatzung nicht mehr in der Lage, sich um den Bewohnern zu kümmern, aber was, wenn sie es schon wussten? Ich musste nachsehen, obwohl ich mich davor fürchtete. Zögernd stieg ich die Treppe hinauf und betrat die Station, wo sich alle auf den Schichtwechsel vorbereiteten, und es gab keine Anzeichen von Emotionalität, keine Tränen, nur arbeitende Menschen.

Eine der Damen blickte auf und sagte: „Oh, hallo, Sie sind noch hier, ich dachte, Sie wären nach Hause gegangen.“
„Ja“, sagte ich, „ich wollte nur sehen, ob alles in Ordnung ist.“ Auch deswegen fühlte ich mich schuldig.
„Machen Sie keine Sorgen um uns, wir kommen schon zurecht, jetzt wo die Krise vorbei ist“, sagte sie, „einen schönen Nachmittag – oder was davon übrig ist!“

Und damit ging ich und überlegte, was ich als nächstes tun sollte. Unten rief ich meinen Manager zu Hause an, der nicht da war. Dann rief ich die Pastorin an, die für Notfälle zuständig war. Sie nahm den Hörer ab und hörte geduldig zu, als ich ihr erzählte, was passiert war, woraufhin sie einen tiefen Seufzer ausstieß. „Sie sind wahrscheinlich völlig erschüttert von der Nachricht“, sagte sie.
„Ich fühle mich so schuldig“, sagte ich, „ich habe sie gebeten, eine zusätzliche Schicht zu machen, zusätzlich zu den vielen, die sie schon gemacht hat …“
„Ja, aber man kann Ihnen nicht die Schuld an einem Aneurysma geben“, sagte sie ruhig. „Gehen Sie nach Hause, ich werde mich mit den Leuten an der Spitze in Verbindung setzen und wir werden etwas für Montag arrangieren. Sind Sie am Sonntag da?“
„Nein“, sagte ich, „ich arbeite von zu Hause aus.“
„Es wird nicht leicht sein, aber nutzen Sie den Tag, um sich von Ihren Gefühlen zu erholen, ich werde die Angelegenheit mit allen Beteiligten besprechen, und wir werden am Montagmorgen darüber sprechen.“
„Wir müssen das Personal zusammenbringen, sie war so beliebt …“
„Natürlich, aber lassen Sie das mein Problem sein, gehen Sie nach Hause und denken Sie daran, es ist nicht Ihre schuld!“
„Danke“, sagte ich, legte den Hörer auf, nahm meine Sachen und ging nach Hause.

Die nächsten anderthalb Tage waren quälend, und obwohl meine Frau dasselbe sagte wie die Pastorin, gingen mir die Gedanken unaufhörlich durch den Kopf. Ich hatte schon fast erwartet, das Telefon klingeln zu hören und die halbe Belegschaft von der Nachricht überwältigt vorzufinden, aber das geschah erst am Montag.

Als ich die Wohnbereiche nacheinander betrat, wurde ich von tränenüberströmten Augen und Mitarbeitern empfangen, die mich fragten, ob ich gehört hätte, was passiert sei, worauf ich natürlich antwortete, dass ich es wusste. Ich bewunderte die Tatsache, dass sie trotzdem weiterarbeiteten und die Tränen vor den Bewohnern abwischten, die spürten, dass etwas nicht stimmte, aber nur wenige fragten, was passiert war. Ich war auch sehr dankbar, dass das Personal so reagierte, und als ich die Nachricht von der Seelsorgerin erhielt, teilte ich allen mit, dass wir mittags eine Personalversammlung abhalten und eine Notbesetzung auf den Stationen zurücklassen würden. Mein Vorgesetzter kam mit einer Besorgnis zu mir, die mir vorgetäuscht schien, aber ich sollte nicht an seiner Aufrichtigkeit zweifeln. Er bot mir jede erdenkliche Unterstützung an und versprach, bei der Besprechung anwesend zu sein.

Das Treffen war eine tränenreiche Angelegenheit, und als ich zu den Mitarbeitern sprach, stotterte ich wieder. Ich lud jeden ein, zu sagen, was er auf dem Herzen hatte, und war erstaunt, dass mir niemand einen Vorwurf machte, sondern in den höchsten Tönen von Angelika sprach. Es ging nicht um mich, es ging um sie, und um den Kampf, den jeder von ihnen hatte, um zur Arbeit zu kommen, besonders wenn sie wussten, dass wir Personalmangel hatten. Die Pastorin sprach einige Worte und ein Gebet am Ende. Alle umarmten die anderen, auch mich, und einige sagten „Danke!“. Die Pastorin sagte, dass sie fand, dass ich trotz meines Stotterns gut gesprochen hatte, und der Manager stimmte ihr zu und dankte mir dafür, wie ich es gemeistert hatte.

Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich es gemeistert hatte, sondern dass alle anderen es viel besser geschafft hatten, und ich saß noch eine Weile in meinem Büro bei geschlossener Tür, bis meine Kollegin, die Beratungsgespräche mit Bewohnern und Angehörigen führte, mit der Büro Dame hereinkam und sagte: „Wir denken, Sie sollten jetzt nach Hause gehen, das ist genug Stress für einen Tag!“

Ich bedankte mich und nahm ihren Rat an, aber ich konnte nicht verstehen, warum sich so viele Menschen Sorgen um mich machten und dass meine Sorgen um sie registriert wurden, aber dann ging das Leben in einem etwas anderen Tempo weiter wie vorher. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren erstaunlich, aber vor allem Angelika, die wirklich alles gegeben hatte, und der Verlust, den ich danach spürte, hielt lange an. Die Schuldgefühle auch.

Was sind wirksamen Lösungen der Migrationspolitik?

„Mehr als 50 Prominente aus Kunst und Kultur in Deutschland haben einen offenen Brief unterzeichnet, um gegen die Asylpolitik der Bundesregierung zu protestieren. »Statt pragmatisch und unbeirrt an wirksamen Lösungen festzuhalten, droht der migrationspolitische Aufbruch in einer populistischen Debatte zu ersticken«, heißt es in dem Aufruf.“

https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/herbert-groenemeyer-und-viele-mehr-prominente-protestieren-gegen-asylkurs-der-bundesregierung-a-054b315b-3d1b-45be-a36a-06b96634e005

Das Problem, was hier angesprochen wird, ist dass die Menschlichkeit durch eine Reform des europäischen Asylsystems auf einmal Grenzen gesetzt wird, obwohl die Regierungsparteien in Berlin Verbesserungen versprochen haben.

Schaut man in die Welt, bekommt man den Eindruck, dass systematische Länder des Westens mit ihrer Mitmenschlichkeit bewusst überfordert werden, da nur sie das Problem annehmen. Doch den Suchergebnissen zufolge sind es anderer Länder, die die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben, wie die Türkei, dass ein wichtiges Aufnahmeland ist, insbesondere aufgrund des syrischen Bürgerkriegs. Sie hat Millionen von syrischen Flüchtlingen sowie Flüchtlinge aus anderen Ländern der Region aufgenommen. Aber Pakistan hat auch seit vielen Jahren eine große Zahl von Flüchtlingen aufgenommen. Es war ein Zufluchtsort für afghanische Flüchtlinge, die vor dem Konflikt in Afghanistan flohen. Pakistan hat über mehrere Jahrzehnte hinweg Millionen von afghanischen Flüchtlingen unterstützt. Der Libanon hat eine beträchtliche Zahl von Flüchtlingen aufgenommen, vor allem wegen des syrischen Bürgerkriegs. Trotz seiner geringen Größe hat der Libanon im Verhältnis zu seiner Bevölkerung eine große Zahl syrischer Flüchtlinge aufgenommen. Jordanien ist ein wichtiges Zielland für Flüchtlinge, die vor Konflikten im Nahen Osten, insbesondere vor dem syrischen Bürgerkrieg, fliehen. Das Land hat einer großen Zahl syrischer Flüchtlinge Zuflucht gewährt. Der Iran hat aber auch eine große Zahl von Flüchtlingen, vor allem aus Afghanistan und dem Irak, aufgenommen. Das Land unterstützt seit vielen Jahren afghanische Flüchtlinge und hat eine der höchsten Flüchtlingszahlen der Welt.

Das Südamerikanisches Land Kolumbien ist ebenfalls ein wichtiges Zielland für Flüchtlinge, die aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Krise in Venezuela aus dem Nachbarland fliehen. Das Land hat einer großen Zahl venezolanischer Flüchtlinge Unterkunft und Hilfe gewährt. Uganda ist auch ein Zufluchtsort für Flüchtlinge aus verschiedenen Nachbarländern, insbesondere aus dem Südsudan. Das Land verfolgt eine fortschrittliche Flüchtlingspolitik, die den Flüchtlingen das Recht auf Arbeit und Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen gewährt. Aber selbst Bangladesch hat aufgrund von Verfolgung und Gewalt einen erheblichen Zustrom von Rohingya-Flüchtlingen aus Myanmar in Flüchtlingslagern untergebracht.

Deutschland ist ganz klar eines der wichtigsten Zielländer für Flüchtlinge in Europa. Es hat eine große Zahl von Asylbewerbern aufgenommen, insbesondere während der europäischen Migrantenkrise 2015-2016. Nach Angaben des UNHCR hat Deutschland Mitte 2021 fast 1,24 Millionen Flüchtlinge und 233.000 Asylbewerber aufgenommen und ist damit das größte Aufnahmeland für Flüchtlinge in Europa. Deutschland ist auch das einzige Land mit hohem Einkommen auf der Liste der Länder, die eine hohen Zahl Flüchtlinge aufnehmen, und verfolgt eine relativ fortschrittliche Flüchtlingspolitik, die Flüchtlingen verschiedene Rechte einräumt, darunter das Recht auf Arbeit und den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen. Das Land hat mehrere Maßnahmen eingeführt, um ihre Integration zu fördern und sie mit wichtigen Dienstleistungen zu versorgen. Zu diesen Maßnahmen gehören Sprach- und Integrationskurse, Berufsausbildungsprogramme und Unterstützung bei der Arbeitssuche. Flüchtlinge haben in Deutschland Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung, Sozialhilfe und Rechtsschutz.

Eine Reform des europäischen Asylsystems bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Menschlichkeit eingeschränkt wird. Eine solche Reform zielt oft darauf ab, das Asylsystem effizienter zu gestalten, die Lasten und Verantwortlichkeiten fairer zu verteilen und gleichzeitig die Rechte und Bedürfnisse von Schutzsuchenden zu wahren. Einige Vorschläge für Reformen könnten darauf abzielen, die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu stärken und eine gerechtere Verteilung von Schutzsuchenden zu ermöglichen. Dies könnte dazu beitragen, die übermäßige Belastung einiger Länder zu verringern, die bisher eine größere Anzahl von Asylbewerbern aufgenommen haben.

Es ist wichtig zu beachten, dass die Gewährung von Asyl und der Schutz von Flüchtlingen grundlegende Prinzipien des Völkerrechts sind. Die Menschenrechte und die Wahrung der Würde jedes Einzelnen sollten weiterhin eine zentrale Rolle bei der Gestaltung des Asylsystems spielen. Allerdings ist es auch wichtig anzumerken, dass sich die spezifischen Auswirkungen einer Reform des Asylsystems auf die Menschlichkeit stark von den konkreten Maßnahmen und Politikentscheidungen abhängen. Die genauen Auswirkungen können unterschiedlich interpretiert werden und hängen von der Umsetzung der Reform sowie den individuellen Perspektiven und Standpunkten ab.

In einigen europäischen Ländern gibt es populistische Parteien, die eine restriktivere Asylpolitik befürworten und sich gegen eine Reform des europäischen Asylsystems aussprechen und argumentieren, dass eine großzügigere Aufnahme von Flüchtlingen die nationale Sicherheit gefährde, die Sozialsysteme überlaste oder die kulturelle Identität gefährde. Populistische Parteien wie der AfD haben in einigen Bundesländern, insbesondere während Zeiten erhöhter Zuwanderung oder politischer Unsicherheit, an Einfluss gewonnen. Sie können eine starke Opposition gegen eine Reform des Asylsystems darstellen und versuchen, ihre Positionen und Ansichten durchzusetzen. Diese politische Blockade kann dazu führen, dass Reformen langsamer voranschreiten oder dass Kompromisse gefunden werden müssen, um eine Einigung zwischen verschiedenen politischen Akteuren zu erzielen. Die politische Dynamik und die genaue Ausprägung der Blockade können jedoch von Land zu Land unterschiedlich sein.

Das Problem für viele engagierte Menschen, darunter die Prominenten, die gegen der Asylkurs der Bundesregierung mit einem offenen Brief protestieren, ist das „nicht pragmatisch und unbeirrt an wirksamen Lösungen festgehalten“ wird. Die Frage ist, wie wirksam sind die Maßnahmen? Sind Flüchtlinge grundsätzlich bereit, sich in Aufnahmeländer zu integrieren, oder sind die kulturellen Differenzen zu groß? Die Einschätzung der Integrationsbereitschaft von Flüchtlingen in Europa kann natürlich je nach Perspektive und Kontext unterschiedlich ausfallen. Vor allem ist es wichtig zu beachten, dass Flüchtlinge eine diverse Gruppe von Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Erfahrungen und Fähigkeiten sind. Daher ist es schwierig, eine einheitliche Bewertung abzugeben, die für alle Flüchtlinge gleichermaßen gilt.

Außerdem gibt es verschiedene Faktoren, die die Integrationsbereitschaft von Flüchtlingen beeinflussen können, dazu gehören Bildungsniveau, Sprachkenntnisse, berufliche Qualifikationen, soziale Netzwerke, gesellschaftliche Akzeptanz und Unterstützung durch das Gastland. Es gibt zahlreiche Beispiele von Flüchtlingen, die sich erfolgreich in ihren neuen Gemeinschaften integriert haben, indem sie Sprachkurse besuchten, Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten nutzten, Arbeitsstellen fanden und sich ehrenamtlich engagierten. Viele Flüchtlinge haben auch ihre eigenen Unternehmen gegründet und einen Beitrag zur Wirtschaft und Kultur ihres Aufnahmelandes geleistet.

Allerdings ist es auch wichtig anzuerkennen, dass die Integration von Flüchtlingen eine komplexe und langfristige Aufgabe ist. Es ist klar, dass es Herausforderungen und Hindernisse geben kann, die die Integration erschweren, wie beispielsweise Sprachbarrieren, Anerkennung von ausländischen Qualifikationen, Diskriminierung oder begrenzte Zugangsmöglichkeiten zu Arbeitsplätzen und Bildung. Diese sind Herausforderungen, an die der Politik mitarbeiten sollen, sowie die Flüchtlinge selbst. Es ist aber wichtig auch die Erfolgsgeschichten darstellen, wo erfolgreichen Integration Früchte trägt, auch wenn es Groll erzeugt unter Deutsche, die nicht so erfolgreich waren. Wichtig ist, dass Flüchtlinge nicht mehr Möglichkeiten haben oder Chancen bekommen als Menschen im eigenen Land, wie es bei der Ukraine der Eindruck gab. Solches erschwert der Akzeptanz gegenüber Flüchtlinge, und gibt die Populismus Aufwind.

Schule schwänzen

Dan verließ verärgert das Haus und machte sich auf den Weg zur Schule, wo er wusste, dass seine Lehrer sich über seine Verwirrung lustig machen und kein Verständnis für seine naive Neugier aufbringen würden, die seinen Schlaf und seine Aufmerksamkeit im Unterricht störte. Es war, als wollten sie ihm sagen, dass es sie nicht interessierte, welche Fragen ihn quälten, sondern dass das, was sie zu lehren hatten, viel wichtiger war. Im Alter von sechzehn Jahren, im Großbritannien der 1970er Jahre, schien ihm Bildung eher eine Erfahrung zu sein, die es zu überstehen galt, als ein Ort des Nachdenkens und der Entdeckung.

Es war ein düsterer Tag, und ihm war kalt, als er die Straße entlangging. Irgendwann würde es wärmer werden, dachte er, aber die Kleidung, die er trug, war zu dünn für die frühmorgendlichen Temperaturen, und auch das störte ihn. Er hatte das Gefühl, dass alles falsch war, die roten Backsteingebäude um ihn herum, die Straßen, die spärliche Vegetation am Straßenrand, die Autos und sogar die Menschen, die er sah, wie sie ihren eigenen Weg zu ihren Zielen gingen. Er befand sich in einer Realität, aus der er gerne ausbrechen würde, aber er hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte.

Seine Fantasie war zu mächtig und wollte aufgeschrieben werden. Seine zahlreichen Notizbücher, die dickeren, in die er gerne schrieb, waren gefüllt mit Eindrücken und Visionen, die nur er verstand. Niemand sonst kümmerte sich darum, dass jedes Mal, wenn er etwas hörte oder las, seine Gedanken explodierten und er sich gezwungen fühlte, sie aufzuschreiben. Er konnte stundenlang in einer Bibliothek sitzen, lesen und schreiben, wenn er nicht vom Personal angesprochen und gefragt wurde, warum er nicht in der Schule war. Bei diesen Gelegenheiten versuchte er zu lügen, dass er an einem Projekt arbeitete, aber er war nicht gut im Lügen.

Niedergeschlagen ging er weiter und ahnte im Voraus das übliche Ritual, sich in eine Klasse voller Schüler anzuschließen, die nach ihrem fröhlichen Geplänkel im Klassenzimmer zu urteilen, froh zu sein schienen, dort zu sein. Dann würden sie alle in die Hauptgebäude gehen, entsprechend ihrem Lehrplan. Jeden Tag die gleiche Routine, und doch war für Dan nichts gewonnen. Es hatte keinen wirklichen Sinn, denn nichts von dem, was die Lehrer ihm sagten, blieb ihm am Ende der Prozedur im Gedächtnis. Er war gelangweilt und genervt. Es gab zwar eine Zeit, in der er gerne zur Schule ging, aber das war vor dem Umzug der Familie, und seitdem hatte er bereits zum zweiten Mal die Schule gewechselt.

Als er die vorgefertigten Gebäude betrat, der als Klassenzimmer diente, war das übliche Geplauder im Gange, und Dan setzte sich an sein Pult und wartete darauf, dass der Lehrer kam und die Namen aufrief. Ein paar der Mädchen machten sich über den stummen Riesen in der Ecke lustig, der nervös lachte, und ein kleiner, pummeliger Mitschüler sprach ein paar Worte, die Dan pflichtbewusst beantwortete. Stille kehrte ein, als der Lehrer eintrat, eine lange, drahtige Gestalt in einem Anzug, der seine dünnen Gliedmaßen unter dem Stoff erahnen ließ, und seine dröhnende Stimme ließ die Schüler zu ihren Tischen husche, wie Kakerlaken, wenn das Licht anging.

Das Ankreuzen der Namen im Register war schnell erledigt, die Klasse geriet erneut in einen Tumult, und der Lärm war zu viel für Dan, der schnell die Treppe nach draußen stolperte und sich plötzlich vor dem Tor wiederfand, das zu der Gasse außerhalb der Schule führte. Er sah sich um, ging schnell durch das Tor und bog in die entgegengesetzte Richtung des Weges ab, den er normalerweise nahm. Die Gasse führte hinunter in ein Tal und ließ das Schulgelände zu seiner Linken und über ihm liegen, während er weiterging. Die Wahrscheinlichkeit, dass er gesehen wurde, war gering, und als er der Kurve folgte, war die Schule schon außer Sichtweite.

Der Weg schlängelte sich hinunter zu einem Bauernhof, aber es war niemand zu sehen, und dahinter lagen die Felder, auf die er sich im Sommer zuvor mit seinem Hund verirrt hatte. Der Hund war von der Polizei weggebracht worden, weil er angeblich aus dem Garten ausgebrochen war und andere Hunde getötet hatte. Dan hatte Mitleid mit seinem Hund, auch wenn ihm das Töten etwas ausmachte, aber er erinnerte sich daran, wie er durch die Felder rannte und glücklich zurückkam, auf und ab hüpfend in der Erwartung, dass Dan etwas werfen würde. Es spielte keine Rolle, was, ob ein alter, durchlöcherter Ball, ein Stein, ein Stück Holz. Es war ein Spiel, das sein Hund liebte, und so spielte auch Dan gerne mit.

Am Morgen begann die Düsternis zu weichen, die Sonne kam durch die Wolken, und es blieb kalt, aber Dan bemerkte, dass seine Schritte schneller und energischer geworden waren, fast hastend. Er war gerne dort, und als er den Hof hinter sich gelassen und die taufeuchten Felder betreten hatte, spürte er, dass er aufatmen konnte. Zum Glück hatte er alle Bücher hinter sich gelassen und konnte ungehindert durch das Gras laufen und spüren, wie seine Füße nass wurden. Aber er vermisste seinen Hund und wusste, dass er mit nassen Füßen Spott ernten würde, wenn er zur Schule zurückkehrte, und Ärger, wenn er nach Hause kam. Plötzlich merkte er, dass er immer noch gefangen war, sein momentanes Gefühl der Freiheit verließ ihn und er drehte sich um.

Er hatte ein paar Münzen in der Tasche, die er im Laufe der Zeit gesammelt hatte, um eine Schachtel Woodbine-Zigaretten zu kaufen, die drei Zigaretten enthielt und in einem Laden an der Ecke verkauft wurde. Aber jetzt war es zu wenig, um viel damit zu machen, aber er hatte eine Idee. Er nahm einen anderen Weg, kam aus den Feldern weit weg von seiner Schule und nahm den direktesten Weg in die Stadt, er fand das Geschäft, in dem er ein Notizbuch und einen Stift kaufen konnte, dann fand er eine Cafeteria in einem großen Geschäft und setzte sich in eine Ecke, wo er nicht auffallen würde. Er begann zu schreiben, und die Worte flossen ihm aus der Feder, er schrieb sie auf, wie sie ihm in den Sinn kamen, ohne auf die Reihenfolge zu achten, und er war eine Zeit lang glücklich.

Er bemerkte die Frau nicht, die sich ihm näherte, bis sie vor ihm stand.
„Was machst du denn hier? Solltest du nicht in der Schule sein?“
Diese Worte hatte er schon so oft gehört, wenn er geschwänzt und versucht hatte, aus seinem Gefängnis auszubrechen. Etwas vor sich hin brabbelnd verließ er eilig die Cafeteria mit seinem Notizbuch und seinem Stift und streifte durch die Stadt wie eine heimatlose Katze, die sich in Ecken verkriecht, bis genug Zeit vergangen war, um nach Hause zurückzukehren.

Liebe als Gegenmittel

„Hannah Arendt identifizierte als Wurzel der Tyrannei den Akt, andere Menschen irrelevant zu machen. Immer wieder kehrte sie zu Augustinus zurück, um das Gegenmittel zu finden: die Liebe … Von Augustinus entlehnte sie die Formulierung amor mundi – „Liebe zur Welt“ -, die zu einem bestimmenden Merkmal ihrer Philosophie werden sollte.“ Maria Popova

Das Problem mit der Liebe, die Augustinus als Begierde beschrieb, vom lateinischen appetitus, von dem das Wort Appetit abgeleitet ist, besteht darin, dass, sobald wir das Objekt der Begierde haben, die Angst aufkommt, es zu verlieren. Dies scheint ein großes Problem in unserer heutigen Gesellschaft zu sein, in der die Menschen von der Begierde und der Angst getrieben werden, das zu verlieren, was sie haben, nämlich den Wunsch, es ausschließlich für sich selbst zu haben. Das geht so weit, dass wir uns damit identifizieren und nicht mit unserem tiefen, kontemplativen Bewusstsein, das der Sitz des rationalen Denkens ist.

Ich denke, es ist richtig, dass die Wurzel der Tyrannei darin besteht, andere Menschen irrelevant zu machen, und die Entmenschlichung von Menschen ist eine Taktik, die von jedem mit böswilligen Absichten angewendet wird, um seine Taten zu rechtfertigen. Aber was ist das Gegenteil davon? Die Liebe als Gegenmittel würde den anderen Menschen wichtigmachen und seine Existenz und Bedeutung anerkennen. Dies geschieht ganz einfach, indem man sich jemandem auf Augenhöhe nähert, indem man z. B. Kindern begegnet, indem man in die Hocke geht, damit sie einem ins Gesicht sehen können, was auch für Menschen im Rollstuhl gilt. Es geschieht, indem man zuhört und sich Zeit nimmt, oder indem man eine Hand oder eine Umarmung anbietet, wenn dies angemessen erscheint. Man tut es, indem man um eine Meinung bittet oder die Perspektive einer anderen Person anhört.

Die innige Liebe zu einem anderen Menschen, auch wenn sie vielleicht als ein Verlangen oder eine tiefe Sehnsucht beginnt, besonders wenn man getrennt ist, sucht die innerste, tiefste Verbindung, aber sie befreit die Person, um so zu sein, wie sie ist. Sie sperrt sie nicht eifersüchtig ein, sondern befähigt die Person, sich mit ihrem ganzen Wesen in die Beziehung einzubringen. Sie ist von einer tiefen Dankbarkeit geprägt. Wie Kahlil Gibran seinem Sohn riet:

„… lass dies dein Verlangen sein:

Zu schmelzen und zu sein wie ein fließender Bach, der seine Melodie in die Nacht singt.

Den Schmerz von zu viel Zärtlichkeit zu kennen.

Verwundet zu werden durch dein eigenes Verständnis von Liebe;

Und bereitwillig und freudig zu bluten.

Im Morgengrauen mit geflügeltem Herzen zu erwachen und für einen weiteren Tag des Liebens zu danken;

In der Mittagsstunde zu ruhen und über die Ekstase der Liebe zu meditieren;

Am Abend mit Dankbarkeit nach Hause zu gehen;

Und dann zu schlafen mit einem Gebet für den Geliebten im Herzen und einem Loblied auf den Lippen“.

Der enttäuschte Liebhaber Arendts, Heidegger, fragte und antwortete sich selbst in seinen Briefen an sie: „Warum ist die Liebe reicher als alle anderen möglichen menschlichen Erfahrungen und eine süße Last für diejenigen, die von ihr ergriffen werden? Weil wir werden, was wir lieben, und doch wir selbst bleiben.“

Zu werden, was wir lieben, geht über das Verlangen oder die Sehnsucht hinaus und verbindet uns in einer Beziehung wie ein Ozean, der ständig in Bewegung ist, sich mit dem Mond bewegt, in den Strömungen des Lebens wirbelt, anschwillt und wieder verschwindet, ist manchmal ruhig und manchmal stürmisch, streckt sich aus und berührt andere Ufer, aber ist immer eins – und bleiben wir doch immer wir selbst.

Können wir diese Bewegung auf der existentiellen Ebene sehen, weit weg von religiösen Dogmen, aber in einer dynamischen Beziehung mit der primären Quelle des Lebens gehalten? Viele Mystiker betrachteten ihre Religion als eine Liebesbeziehung und verwendeten die Sprache der Liebenden, um ihre Erfahrung zu beschreiben. Im Hohelied Salomos werden die Liebenden als leidenschaftlich, hingebungsvoll und einander zutiefst verpflichtet dargestellt, als Allegorie für die Liebe zwischen Gott und seinem Volk. Dies scheint weit entfernt von dem, was heute als Religion gilt, aber ist die irreligiöse Haltung nicht eine ängstliche Perspektive, die der alltäglichen Tyrannei ähnelt, die wir erleben, und in unserer Egozentrik machen wir auch Gott irrelevant? „In ihm bewegen wir uns und haben unser Sein“, zitiert der Apostel Paulus aus einem Gedicht von Epimenides mit dem Titel „Cretica“, in dem Zeus als derjenige beschrieben wird, „dem wir alle entstammen“. Religiöse Dogmen sind Worte, die versuchen, das Unaussprechliche zu beschreiben; Worte, die unbeholfen und plump daherkommen und sich in die Sinnlichkeit einer Liebesbeziehung verirren.

So kann die Liebe verschiedene Ausdrucksformen haben, ist aber im Grunde untrennbar. Sie entspringt immer der gleichen tiefen Zugehörigkeit, der gleichen Verbundenheit, die nur je nach Beziehung zum Ausdruck kommt. Wenn wir in Liebe verbunden sind, fühlen wir uns als Einheit und sind um den anderen genauso besorgt wie um ein Glied. Maria Popova schreibt:

Aber während dieses antiken Begriffes der Nächstenliebe … für Arendts philosophisches Anliegen und ihr Interesse an Augustinus von zentraler Bedeutung war, ist seine politische Bedeutung untrennbar mit der tiefsten Quelle der Liebe verbunden: dem Persönlichen.

Wer würde in dem heutigen populistischen Chaos die Liebe als politisch bedeutsam ansehen? Vielleicht ist sie das wahre Zeichen unserer Entfremdung von dem, was wir innerlich vermissen, was in unserem Leben fehlt.

Wie Maria Popova schreibt, „blieben Arendt und Heidegger ein halbes Jahrhundert lang im Leben des anderen, bis zu Arendts plötzlichem Tod. Heidegger überlebte sie um sechs Monate.“ Es war eine komplizierte und vielleicht einseitige Beziehung, aber sie vermittelte uns ein tiefes Verständnis für das Wesen der Liebe einerseits und für die Unbeständigkeit unserer Wünsche andererseits. Auch wenn wir etwas intellektuell verstehen, hat der Sog der Trennung oft tragische Auswirkungen auf unser Leben, und der Verlust des Gefühls der Zugehörigkeit fühlt sich wie der Verlust eines Gliedes an.

Das Gegenmittel besteht darin, in den Ozean der Liebe einzutauchen und zuzulassen, dass er sich mit dem Mond bewegt, dass er in den Strömungen des Lebens wirbelt, dass er anschwillt und zurückweicht, dass er manchmal ruhig und manchmal stürmisch ist, dass er sich ausbreitet und andere Ufer berührt und doch eins bleibt, und wir bleiben zusammen.

Die Liebe ist ein zentraler Begriff der Moral.

„Die Tatsache, dass ein ungeprüftes Leben tugendhaft sein kann, und die Tatsache, dass die Liebe ein zentraler Begriff der Moral ist, sind Beispiele für die Tatsachen, die mich interessieren und die vergessen oder „wegtheoretisiert“ worden zu sein scheinen. Die zeitgenössischen Philosophen verbinden häufig das Bewusstsein mit der Tugend, und obwohl sie ständig von der Freiheit sprechen, sprechen sie selten von der Liebe. Aber es muss eine Beziehung zwischen diesen beiden Begriffen geben, und es muss möglich sein, sowohl Sokrates als auch dem tugendhaften Bauern gerecht zu werden.“ Murdoch, Iris. Die Souveränität des Guten.

Iris Murdoch hat meiner Meinung nach ein wichtiges Plädoyer gehalten, und der „tugendhafte Bauer“ ist ein Bild, das man öfter sieht als einen Sokrates. Sie vertrat die Ansicht, dass die Liebe eine wesentliche Voraussetzung für die Moral ist und dass unsere Fähigkeit zur Liebe uns in die Lage versetzt, moralisch verantwortlich zu handeln. Sie sagt, dass die Liebe eine transformative Kraft ist, die uns befähigt, über unser eigenes enges Eigeninteresse hinaus zu sehen und den Wert und die Würde anderer Menschen anzuerkennen. In diesem Sinne ist die Liebe nicht nur eine Emotion oder ein Gefühl, sondern eine Art, die Welt zu sehen und zu verstehen, die eine Art moralische Vision beinhaltet, die es uns ermöglicht, den inhärenten Wert anderer Menschen, aber auch der Natur, zu erkennen und so zu handeln, dass ihr Wohlergehen gefördert wird.

Die Liebe, die sie in den zeitgenössischen Moralvorstellungen vermisst, die ich als das Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Verbundenheit, der Verwandtschaft und Untrennbarkeit auf verschiedenen Beziehungsebenen verstehe, hat einen großen Einfluss auf die Tiefe unserer Moralvorstellungen. Häufig wird eine Verbindung zwischen Liebe und Gegenseitigkeit hergestellt, wobei sich Gegenseitigkeit auf den gegenseitigen Austausch von Vorteilen oder Privilegien zwischen zwei Personen oder Gruppen bezieht. Im Zusammenhang mit der Liebe kann Gegenseitigkeit viele Formen annehmen, darunter emotionale Unterstützung, körperliche Zuneigung, Freundlichkeit und andere Ausdrucksformen der Liebe, die wir in der Regel als etwas betrachten, das denjenigen vorbehalten ist, die wir lieben oder respektieren.

Robin Wall Kimmerer, Mutter, Pflanzenökologin, Naturschriftstellerin und Professorin für Umweltbiologie am College of Environment and Forestry der State University of New York, weist darauf hin, dass viele indigene Kulturen ein tiefes Verständnis und Respekt für die Prinzipien der Gegenseitigkeit in der Natur haben und sich in einer wechselseitigen Beziehung zur natürlichen Welt sehen. Dazu gehören Praktiken wie Dank und Opfergaben für die Ressourcen, die dem Land entnommen werden, oder die Entnahme von nur dem Nötigsten und die Rückgabe, um die Gesundheit und den Reichtum der natürlichen Welt zu erhalten. Im Gegensatz dazu betrachten moderne westliche Gesellschaften die Natur oft als eine Ressource, die zum Nutzen des Menschen ausgebeutet wird, ohne die langfristigen Auswirkungen auf die natürliche Welt zu berücksichtigen. Dies kann zu Umweltzerstörung und einem Zusammenbruch der wechselseitigen Beziehung zwischen Menschen und Natur führen.

Hier sehe ich das Problem mit den Konzepten der Moral und der Liebe, denn wenn man so liebt, wie ich es oben beschrieben habe, als ein Gefühl der Zugehörigkeit, dann kommt die Gegenseitigkeit von selbst, sei es gegenüber Menschen, Tieren, Pflanzen oder anderen biologischen Merkmalen unserer Welt. Wie viele Menschen schätzen ein bestimmtes Stück Land oder ihren Garten, die Tiere, die in den Wäldern oder auf den Ebenen leben, und sind untröstlich, wenn seelenlose Menschen zerstören oder ausbeuten, was sie lieben? Nicht nur die Ausbeutung der Menschen, sondern auch der Natur sollte uns auf diese Weise berühren. Viele indigene Kulturen betrachten die Moral als eng mit der natürlichen Welt verbunden, ebenso wie die Beziehungen zwischen Menschen und Natur, was erhebliche Auswirkungen darauf hat, wie Individuen und Gesellschaften Umweltfragen, ethische Dilemmata und soziale Gerechtigkeit angehen.

Wenn wir uns selbst als verwandt und untrennbar betrachten, als eine Einheit, die zur Gegenseitigkeit berufen ist, so wie es die gesamte Natur ist, fördern wir wechselseitige Beziehungen oder gegenseitigen Altruismus, den wir auch als ein Prinzip in der Natur sehen. Was uns Menschen betrifft, so sagt das dänische Sprichwort: Wenn im Herzen Platz ist, ist auch im Haus Platz. Reziprozität ist nicht etwas, das „besonderen“ Menschen vorbehalten ist, sondern allen Menschen. Der Philosoph Aldo Leopold plädiert in seinem einflussreichen Buch „A Sand County Almanac“ dafür, dass der Mensch sich als Mitglied einer „biotischen Gemeinschaft“ betrachten und sich für den Schutz und die Erhaltung der Vielfalt des Lebens auf der Erde einsetzen sollte. Er betont die Bedeutung einer Landethik, die die Verbundenheit aller Lebewesen anerkennt und ein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen des Menschen und der natürlichen Welt anstrebt.

Aber es gibt auch andere westliche Philosophen, die sich einen ähnlichen moralischen Rahmen gegeben haben, wie der norwegische Philosoph Arne Naess, der das Konzept der „Tiefenökologie“ entwickelt hat, eine Umweltphilosophie, die den inhärenten Wert aller Lebewesen unabhängig von ihrem instrumentellen Nutzen für die menschlichen Bedürfnisse und die Umstrukturierung moderner menschlicher Gesellschaften im Einklang mit solchen Ideen fördert. Val Plumwood, eine australische Philosophin und Ökofeministin, die für ihre Arbeit über Anthropozentrismus bekannt ist, schrieb ausführlich über die Notwendigkeit eines „ökologischen Feminismus“, der die Art und Weise anerkennt, in der die Ausbeutung der Natur durch den Menschen mit der Ausbeutung von Frauen und anderen Randgruppen verbunden ist. Auch wenn diese Ideen in der westlichen Philosophie nicht unbedingt zum Mainstream gehören, hatten sie doch einen erheblichen Einfluss auf die Umweltethik und die Art und Weise, wie viele Menschen über unsere Beziehung zur natürlichen Welt denken.

Aber es gibt auch andere westliche Philosophen, die sich einen ähnlichen moralischen Rahmen zu eigen gemacht haben, wie z. B. Arne Naess, ein norwegischer Philosoph, der das Konzept der „deep ecology“ (Tiefenökologie) entwickelt hat, eine Umweltphilosophie, die den inhärenten Wert aller Lebewesen unabhängig von ihrem instrumentellen Nutzen für die menschlichen Bedürfnisse und die Umstrukturierung der modernen menschlichen Gesellschaften im Einklang mit diesen Ideen fördert. Val Plumwood, eine australische Philosophin und Ökofeministin, die für ihre Arbeit über Anthropozentrismus bekannt ist, schrieb ausführlich über die Notwendigkeit eines „ökologischen Feminismus“, der die Art und Weise anerkennt, in der die menschliche Ausbeutung der Natur mit der Ausbeutung von Frauen und anderen Randgruppen verbunden ist. Auch wenn diese Ideen in der westlichen Philosophie nicht unbedingt zum Mainstream gehören, haben sie doch einen bedeutenden Einfluss auf die Umweltethik und die Art und Weise, wie viele Menschen über unsere Beziehung zur natürlichen Welt denken, gehabt.

Kürzlich schrieb ich[i] über Vanessa Machado de Oliveira, eine brasilianische Wissenschaftlerin und Aktivistin, die sich intensiv mit Fragen der Umweltgerechtigkeit und den Rechten indigener und traditioneller Gemeinschaften beschäftigt hat, und ihr Buch Hospicing Modernity. Obwohl sie nicht unbedingt explizit über die Liebe schreibt, ist ihre Arbeit eng mit der Idee der Liebe als einer transformativen Kraft in der Welt verbunden. Sie vertritt die Auffassung, dass es für einen sinnvollen und dauerhaften Wandel notwendig ist, starke und kooperative Beziehungen zu den Gemeinschaften aufzubauen, die am stärksten von Umweltungerechtigkeiten betroffen sind. Diese Betonung von Beziehungen ähnelt Murdochs Idee, dass Liebe eine Art ist, die Welt zu sehen und zu verstehen, und dass sie uns erlaubt, den Wert und die Würde anderer Menschen zu erkennen. In beiden Fällen wird betont, wie wichtig es ist, ein tiefes und empathisches Verständnis für die Erfahrungen und Perspektiven anderer zu entwickeln, um gerechtere und ausgewogenere Beziehungen zu schaffen.

Eine weitere Verbindung zwischen der Liebe und Machado de Oliveiras Arbeit besteht darin, dass sie die Notwendigkeit von Solidarität und kollektivem Handeln betont. Sie argumentiert, dass es für einen sinnvollen Wandel notwendig ist, Netzwerke der Solidarität aufzubauen und über Unterschiede hinweg zusammenzuarbeiten, um gemeinsame Herausforderungen anzugehen. Diese Betonung der Solidarität ähnelt Murdochs Idee, dass die Liebe uns befähigt, unser eigenes enges Eigeninteresse zu überwinden und so zu handeln, dass das Wohlergehen der anderen gefördert wird. In beiden Fällen wird betont, wie wichtig es ist, unsere gemeinsame Menschlichkeit anzuerkennen und zusammenzuarbeiten, um eine gerechtere und ausgewogenere Welt zu schaffen.


[i] In meinem englischsprachigen Blog bei substack

Missverständnisse über die Liebe

„Fast jede religiöse, spirituelle und kontemplative Tradition in der Geschichte unserer Spezies enthält, wenn man sie von ihren mystischen und gegenwissenschaftlichen Aspekten befreit, in ihrem Zentrum eine Ethik der Liebe. Aber im Zentrum fast jeder Tradition, insbesondere der westlichen, steht auch eine gefährliche Verzerrung der Liebe durch das Selbst.

Am bekanntesten ist die Goldene Regel, die die Realität des eigenen Ichs mit der einzigen Realität verwechselt, indem sie die eigenen Wünsche, Sehnsüchte und Begierden als allgemeingültig ansieht und annimmt, dass der andere genau diese teilt – und damit die souveräne Realität des anderen negiert und die Möglichkeit ausschließt, dass eine ganz andere Person etwas ganz anderes für sich will.“

Maria Popova[i]

Ich fand das interessant, wahrscheinlich weil ich ein Fan der Goldenen Regel bin, seit ich sie kennengelernt habe. Allerdings sehe ich die Absicht der Regel anders, was durch andere Versionen desselben Grundsatzes bestätigt. Die meisten Versionen der goldenen Regel in anderen Kulturen besagen, dass wir anderen nicht das Unrecht antun sollen, das wir uns selbst nicht wünschen. Die christliche Version lautet: „Was ihr wollt, dass man euch tut, das tut auch den andern; denn das ist die Summe des Gesetzes und der Propheten.“ Matthäus 7,12 oder die kürzere Version: „Was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch.“ Lukas 6,31 dreht das Sprichwort um, aber rechtfertigt nicht die Überinterpretation, die ihm von Maria Popova gegeben wird, sonst ist es offen für die narzisstische Interpretation, dass die eigenen Wünsche, Begierden und Sehnsüchte für alle gelten.

Wir leben in einem narzisstischen Zeitalter, in dem es normal ist, die Realität des eigenen Ichs mit der einzigen Realität zu verwechseln, und die Liebe hat eine Abwertung erfahren und ist bloß zur Kooperation geworden, um die eigenen Wünsche, Begierden und Sehnsüchte zu verwirklichen, statt zur Überzeugung der Untrennbarkeit. Die christliche goldene Regel sollte als ein weiteres Beispiel dafür verstanden werden, wie Jesus eine nicht-duale Perspektive in die jüdische Kultur einführte, nach der die Menschheit eins ist und eins mit allem, was existiert. Wir empfinden eine besondere Verbundenheit zu Menschen, von denen wir uns unzertrennlich fühlen und bei denen wir bleiben wollen – für immer. Liebe ist diese Erfahrung des Einsseins, und es gibt verschiedene Grade des Einsseins, die von tiefer sexueller Intimität bis zur Akzeptanz reichen, dass unser Feind trotz seines Widerstands unser Bruder ist. Deshalb schmerzt der Tod Menschen, die zurückbleiben, weil sie von ihren Lieben getrennt wurden.

Die Griechen hatten viele Wörter für Liebe, die die verschiedenen Aspekte der Liebe darstellten, die die ältesten Religionen zu fördern versuchten:

Agápē (ἀγάπη) ist das griechische Wort für bedingungslose oder selbstlose Liebe, die durch den christlichen Einfluss oft mit der Liebe Gottes zu den Menschen in Verbindung gebracht wurde. Es ist ein Prinzip, das seinen Ursprung darin hat, dass wir uns selbst als Ausdruck von Gott in seiner Einzigartigkeit verstehen. Das Gegenteil, Hass, Verachtung, Feindseligkeit, wird als Gegensatz zu diesem Prinzip betrachtet.

Érōs (ἔρως) ist das griechische Wort für romantische oder leidenschaftliche Liebe, die oft mit körperlicher Anziehung und Begehren in Verbindung gebracht wird und Ausdruck des natürlichen Drangs ist, Leben zu schaffen. Aber der Drang, „ein Fleisch“ zu werden, wie es in der Bibel heißt, ist auch ein Zeichen der Unzertrennlichkeit. Als Gegenstück, sehen wir in unserer modernen Gesellschaft, wie Beziehungen aufgrund von Apathie, Gleichgültigkeit oder Desinteresse zerbrechen, weil Paare sich als Individuen und nicht als unzertrennlich sehen.

Philía (φιλία) ist das griechische Wort für zärtliche Liebe oder Freundschaft, oft verbunden mit Loyalität, gegenseitiger Unterstützung und gemeinsamen Interessen. Auf diese Weise erleben wir die Einheit mit anderen Menschen, ohne die sexuelle Komponente auszuleben, und dennoch kann die Verbindung sehr tief sein. Als Gegenstück dazu, sehen wir wie in sozialen Medien, die Feindseligkeit, Feindschaft und Rivalität gefördert wird, indem unsere Einheit verleugnet und Menschen und Organisationen sie zu untergraben versuchen.

Philautía (φιλαυτία) ist das griechische Wort für Selbstliebe oder Selbstwertgefühl, das oft mit einem gesunden Selbstwertgefühl und Selbstachtung als Mitglied der Einheit der Menschheit in Verbindung gebracht wird und eine Grundvoraussetzung für unser psychisches Wohlbefinden ist. Stattdessen sehen wir so viele Menschen, die unter Selbsthass, Selbstverleugnung und Selbstzerstörung leiden, was oft das Ergebnis des Vergleichs mit anderen ist.

Storgē (στοργή) ist das griechische Wort für familiäre Liebe oder natürliche Zuneigung und wird oft mit der Liebe zwischen Eltern und Kindern oder Geschwistern in Verbindung gebracht, die die erste Erfahrung von Zugehörigkeit und Identität in einer Gruppe ist. Familiäre Entfremdung, Vernachlässigung und Misshandlung hingegen sind Ausdruck eines Mangels an familiärer Einheit und Zusammenhalt.

Xenía (ξενία) ist das griechische Wort für Gastfreundschaft oder Großzügigkeit gegenüber Fremden oder Gästen, das in der antiken griechischen Kultur oft als wichtiger Wert und als Ausdruck des Prinzips angesehen wird, dass wir eine Einheit sind, egal wie weit wir voneinander entfernt leben, wie unterschiedlich wir uns kulturell entwickelt haben oder welche Hautfarbe wir haben. Stattdessen wird Fremdenfeindlichkeit, Vorurteile und Diskriminierung gefördert, was als Zeichen für einen schwindenden Zusammenhalt zwischen den Nationen und Kulturen dient.

Bleiben wir bei der Liebe als Zugehörigkeit, als Gefühl der Unzertrennlichkeit, die Ausdruck eines gesunden Lebens, erkennt jeder, wie es in der Welt so sehr fehlt. Und doch finden wir sie überall in isolierten, selbst schlimme Situationen, wo Menschen die Nähe zu anderen erfahren, sei es in einem Slum, einem Flüchtlingslager oder in unserer eigenen Gesellschaft, wenn unsere Egos zur Seite treten. Mir gefiel, wie Maria Tom Stoppard zitierte, der Liebe als „Wissen um den anderen… Wissen um sich selbst, den wahren Er, die wahre Sie, in extremis, wenn die Maske vom Gesicht fällt“ definierte. Diese Maske ist das, was wir alle in dieser Welt tragen, und sie trennt uns voneinander. Nur wenn sie fällt, können wir sehen, wie sehr wir miteinander verbunden sind, und wir erleben Einheit – und sei es nur für Momente. Es sind Momente, in dem wir spüren, dass wir von dem Widerstand gegen die Liebe als Unzertrennlichkeit heilen können, wenn eine Vision des verbundenen Lebens erscheint wie eine Kerzenflamme in der Dunkelheit, wie ein heller Stern in der Nacht, und obwohl wir wissen, dass sie verblassen wird, ist sie so kostbar wie ein Leuchtfeuer, das uns den Weg nach Hause zeigt. Mit etwas Übung können wir dieses Licht immer wieder hervorrufen, und wir verstehen, dass es unsere eigene Vorstellung von uns selbst ist, unsere Maske, unser Ego, das uns trennt, und dass wir etwas brauchen, um die Maske fallen zu lassen, um unseren Geist von egoistischen Sorgen zu befreien.

Alan Watts hat ausführlich über die Denkweise geschrieben, die uns in inneres Selbstbewusstsein und äußere Realität, in Ego und Universum unterteilt, also die Denkweise, die uns die gesamte westliche Kultur eingeimpft hat, und er stellte fest, dass wir, solange wir so beeinflusst sind, niemals die Freiheit erfahren können, die es uns ermöglicht, die Maske fallen zu lassen: „Die Bedeutung der Freiheit kann von einem geteilten Geist niemals erfasst werden. Wenn ich mich von meiner Erfahrung und von der Welt getrennt fühle, scheint Freiheit das Ausmaß zu sein, in dem ich die Welt herumschubsen kann, und das Schicksal das Ausmaß, in dem die Welt mich herumschubst. Aber für den vereinten Geist gibt es keinen Gegensatz zwischen „Ich“ und der Welt. Es gibt nur einen Prozess, der handelt, und er tut alles, was geschieht. Er hebt meinen kleinen Finger, und er erzeugt Erdbeben. Oder, wenn Sie es so ausdrücken wollen, ich erhebe meinen kleinen Finger und erzeuge auch Erdbeben. Niemand ist schicksalhaft und niemand wird schicksalhaft.“[ii]

Die Erfahrung einer solchen Interdependenz und Verflechtung ist umso zwingender, wenn man Liebe als diese Existenz in einer Einheit versteht, und sei es die Hingabe zu der Liebe Ihres Lebens, Ihre Zuneigung zu Ihren Kindern oder Verwandten, die Wärme, die Sie für Ihre Freunde empfinden, oder Ihre Verantwortung für Ihre Nachbarn und Kollegen. Wenn Philosophie auch die Weisheit der Liebe bedeuten kann, dann ist es eine Philosophie, die wir brauchen, um als Spezies zu überleben. Zurzeit ist sie unter Beschuss.

Der Goldene Regel ist ein Schritt, ein Trittstein, in diese Richtung auf Menschen zu, indem wir erkennen, dass wir es nicht verantworten können, andere Menschen das anzutun, was wir selbst nicht wollen würden. Mit der Zeit kommt man hin zu der Überlegung, wie man seine Verbundenheit zeigen kann, indem man andere Gutes tut, anstatt nur das Schlimme zu vermeiden. Das ist die wahre Bedeutung des Goldenen Regel, wie sie Jesus auslegte. Voraussetzung dafür ist, dass wir die Maske fallen lassen können, um unseren Geist von egoistischen Sorgen zu befreien, und das braucht Übung.


[i] https://www.themarginalian.org/2022/01/08/iris-murdoch-the-sublime-and-the-good/?mc_cid=f1b2d6d28f&mc_eid=a151fba58f Übersetzt mit Deepl.com

[ii] https://www.amazon.de/Weisheit-ungesicherten-Lebens-Alan-Watts/dp/3426875772/ref=sr_1_2?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&keywords=The+Wisdom+of+Insecurity+Deutsch&qid=1682227286&sr=8-2

Dekonstruktion

Der Drang zur Erweiterung des Normalen

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen erheblichen Druck, das zu erweitern, was in der Gesellschaft als „normal“ galt. Viele der Veränderungen, die im 20. Jahrhundert stattfanden, hatten jedoch ihre Vorläufer in früheren Jahrhunderten und waren eine Reaktion auf große Ungleichheit und Ungerechtigkeit sowie großes Leid.

Frauen waren besonders von der industriellen Revolution betroffen. Mit der Entwicklung neuer Fabriken und Fertigungsverfahren verließen viele Frauen die ländlichen Gebiete und zogen in die Städte, um in Fabriken zu arbeiten. Dadurch änderte sich die Rolle der Frauen erheblich, die zuvor Hausarbeit mit produktiven Tätigkeiten zu Hause kombiniert hatten, obwohl sie zugegebenerweise oft nur begrenzte Bildungsmöglichkeiten hatten. Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken waren jedoch oft hart und gefährlich, mit langen Arbeitszeiten, geringer Bezahlung und dem Kontakt mit gefährlichen Stoffen. Die Frauen mussten unter diesen Bedingungen eine Lösung für ihre kleinen Kinder finden, und oft wurden Kinder zusammen mit ihren Müttern beschäftigt, weil sie schlechter bezahlt werden konnten als Männer. Außerdem waren Frauen am Arbeitsplatz Diskriminierungen und Belästigungen ausgesetzt, für die es kaum rechtlichen Schutz oder Rechtsmittel gab. Dies führte zur Entstehung von Frauenrechtsbewegungen, die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert hatten, als die Suffragetten Bewegung für das Frauenwahlrecht kämpfte. Die Wahlrechtsbewegung in Großbritannien war im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aktiv, wobei sich Gruppen wie die Women’s Social and Political Union (WSPU) für das Frauenwahlrecht einsetzten. Im Jahr 1918 erhielten Frauen über 30 Jahren in Großbritannien das Wahlrecht, und 1928 wurde es auf alle Frauen über 21 Jahren ausgedehnt.

Um die Mitte des letzten Jahrhunderts, insbesondere während des Zweiten Weltkriegs, traten Frauen in großer Zahl ins Berufsleben ein, um die Kriegsanstrengungen zu unterstützen. Nach dem Krieg arbeiteten viele Frauen weiterhin außer Haus. Dies war ein bedeutender Unterschied zu den traditionellen Geschlechterrollen der Vergangenheit, bei denen die Männer die Ernährer waren und von den Frauen erwartet wurde, dass sie zu Hause blieben und die Familie versorgten. Das Fehlen von Männern nach dem Zweiten Weltkrieg war ein wichtiger Faktor für den verstärkten Eintritt von Frauen in den Arbeitsmarkt in Deutschland. Nach dem Krieg waren viele Männer tot oder in Gefangenschaft, was dazu führte, dass es einen großen Bedarf an Arbeitskräften gab, um die deutsche Wirtschaft wieder aufzubauen. Frauen wurden somit in vielen Sektoren des Arbeitsmarktes benötigt, um diese Lücken zu füllen. In den 1960er und 1970er Jahren gab es eine starke feministische Bewegung in Deutschland, die sich für die Gleichberechtigung von Frauen in allen Bereichen des Lebens einsetzte. Zudem wurden Frauen auch gezielt zur Arbeitsaufnahme aufgefordert und unterstützt, um das Wirtschaftswunder in Deutschland voranzutreiben. Die Bundesregierung und andere Institutionen wie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände förderten den Eintritt von Frauen in den Arbeitsmarkt und die Emanzipation von Frauen im Allgemeinen. So wurden beispielsweise spezielle Programme und Maßnahmen zur Förderung von Frauen im Arbeitsmarkt aufgelegt. Andere Faktoren wie Bildung, gesellschaftlicher Wandel und politische Veränderungen spielten ebenfalls eine wichtige Rolle.

Der Kampf für die Bürgerrechte der Afroamerikaner, der auch in den deutsche Medien Beachtung fand, hat seine Wurzeln im 19. Jahrhundert, als sich Abolitionisten für die Abschaffung der Sklaverei und die Gleichberechtigung der schwarzen Amerikaner einsetzten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewann die Bürgerrechtsbewegung an Schwung, und führende Persönlichkeiten wie W.E.B. Du Bois und Martin Luther King Jr. setzten sich für die Abschaffung der Rassendiskriminierung und der Rassentrennung ein. Natürlich gab es auch in Großbritannien, insbesondere in den Kolonien, eine Geschichte der Rassendiskriminierung und Rassentrennung, obwohl die Sklaverei in Großbritannien 1833 mit der Verabschiedung des Slavery Abolition Act abgeschafft wurde. Mit diesem Gesetz wurde die Sklaverei im gesamten britischen Empire, einschließlich der Karibik, Kanadas und Indiens, abgeschafft. Das Gesetz befreite jedoch nicht sofort alle versklavten Menschen, sondern führte ein Lehrlingssystem ein, das die versklavten Menschen verpflichtete, eine Zeit lang für ihre ehemaligen Herren zu arbeiten, bevor sie die volle Freiheit erlangten. Im 20. Jahrhundert gab es in Großbritannien eine wachsende Bewegung für die Bürgerrechte und die Gleichberechtigung von Farbigen. Organisationen wie die Anti-Apartheid-Bewegung und die Indian Workers‘ Association setzten sich für mehr Rechte und Möglichkeiten für Minderheiten ein.

Der Kampf für LGBT-Rechte, der in letzter Zeit immer mehr an Bedeutung gewinnt, hat seine Wurzeln im 19. Jahrhundert, als die Schwulenrechtsbewegung in Europa und Nordamerika entstand. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzten sich Aktivisten weiterhin für mehr Akzeptanz und Rechte für homosexuelle Menschen ein, was in Großbritannien nach einer Geschichte der Diskriminierung von LGBT-Personen ebenfalls ein Thema war, da dort Gesetze galten, die Homosexualität kriminalisierten, bis Ende des 20. Die Akzeptanz und Sichtbarkeit von LGBTQ+-Personen hat seit den 2000er Jahren deutlich zugenommen. Viele Länder haben die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert und Antidiskriminierungsgesetze zum Schutz von LGBTQ+-Personen verabschiedet. Es gibt eine wachsende Anerkennung nicht-binärer Geschlechtsidentitäten und einen Vorstoß für mehr Inklusivität und Akzeptanz von Menschen, die nicht den traditionellen Geschlechtsnormen entsprechen. Dies hat zu Änderungen in Bereichen wie Bildung, Gesundheitswesen und Beschäftigungspolitik geführt, um nicht-binäre Personen besser zu berücksichtigen.

Die Gegenkultur-Bewegung der 1960er Jahre hatte einen frühen Einfluss auf diese Diskussion und stellte die gängigen Werte und sozialen Normen in Frage, einschließlich der traditionellen Vorstellungen von Patriotismus, Konsumverhalten und Konformität. Diese Bewegung wurde ihrerseits durch die 1950er und 1960er Jahre und das Aufkommen einer „sexuellen Revolution“ verstärkt, die die traditionellen Ansichten über Sexualität und Beziehungen in Frage stellte. Die Entwicklung und Anwendung von Geburtenkontrolle und die Legalisierung der Abtreibung gaben den Frauen mehr Kontrolle über ihren Körper und ihre reproduktiven Entscheidungen. Einige Feministinnen haben jedoch in letzter Zeit Bedenken hinsichtlich des möglichen Drucks und der Erwartungen an Frauen geäußert, sexuell aktiv und verfügbar zu sein. Ein Argument ist, dass die weit verbreitete Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln und Abtreibungen eine kulturelle Erwartung geschaffen hat, dass Frauen sexuell aktiv sein sollten, und dass Frauen, die sich gegen die Verwendung von Verhütungsmitteln oder Abtreibungen entscheiden, verurteilt oder stigmatisiert werden könnten. Darüber hinaus argumentieren einige, dass Geburtenkontrolle und Abtreibung als Mittel zur Kontrolle der Sexualität von Frauen eingesetzt werden können, indem sie eine Norm der sexuellen Verfügbarkeit fördern und die Verantwortung für die Verhütung einer Schwangerschaft auf die Frauen abwälzen.

Mary Harrington argumentiert in Feminismus gegen den Fortschritt[i], dass der Einsatz von Technologien wie In-vitro-Fertilisation, Gentests und künstlicher Intelligenz zur Verbesserung der menschlichen Fähigkeiten und Entscheidungsfindung das Potenzial hat, das Wesen der menschlichen Erfahrung und Beziehungen grundlegend zu verändern. Harringtons Argument ist Teil einer breiteren Diskussion unter Feministinnen und anderen Denkern über die ethischen und sozialen Auswirkungen neuer Technologien und darüber, wie diese Technologien unser Verständnis von Identität, Handlungsfähigkeit und Autonomie verändern. Während einige diese Technologien als Mittel zur Ermächtigung des Einzelnen und zur Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten betrachten, argumentieren andere, dass sie erhebliche Risiken und Herausforderungen für die Würde, Gleichheit und Freiheit des Menschen mit sich bringen. Harrington hat in ihrem Buch auch ein Kapitel über die „Cyborg-Theokratie“[ii], und die Idee des „Cyborgs“ wurde von mehreren feministischen Denkerinnen erforscht, darunter Donna Haraway in ihrem einflussreichen Essay A Cyborg Manifesto[iii] von 1985, in dem Haraway argumentiert, dass die Grenzen zwischen Mensch und Maschine sowie zwischen Natur und Kultur zunehmend verschwimmen und dass die Figur des Cyborgs als Symbol für diese Verwischung der Grenzen angesehen werden kann.

Emily Oster, in ihrem 2021 erschienenen Buch The Family Firm: A Data-Driven Guide to Better Decision Making in the Early School Years (Ein datengestützter Leitfaden für eine bessere Entscheidungsfindung in den ersten Schuljahren) untersucht, wie der Einsatz von Daten und Technologie Eltern dabei helfen kann, bessere Entscheidungen über die Erziehung und Entwicklung ihrer Kinder zu treffen, und argumentiert, dass dieser datengestützte Ansatz Eltern dabei helfen kann, konkurrierende Anforderungen auszugleichen und bessere Ergebnisse für ihre Kinder zu erzielen. Wie Harrington ist auch Oster Teil einer breiteren Diskussion unter Feministinnen und anderen Denkern über die Auswirkungen der Technologie auf unser Verständnis von menschlicher Identität, Beziehungen und Autonomie. Diese Diskussionen können zwar komplex und vielschichtig sein, sie unterstreichen jedoch, wie wichtig es ist, sich mit neu entstehenden Technologien auf eine durchdachte und kritische Weise auseinanderzusetzen und ihre potenziellen Auswirkungen auf die Gesellschaft als Ganzes zu berücksichtigen.

Nicht zuletzt hat auch die Umweltbewegung ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert, als das Bewusstsein für den Umweltschutz wuchs und Naturschützer auf den Plan traten, um natürliche Ressourcen und unveränderte oder nur leicht veränderte Naturgebiete zu schützen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewann die Umweltbewegung mit der Einrichtung von Nationalparks und Schutzgebieten und dem Aufkommen von Gruppen wie dem Sierra Club und Greenpeace an Schwung. Großbritannien war zu dieser Zeit ein Zentrum der Umweltbewegung, mit Organisationen wie Friends of the Earth und der Green Party, die sich für den Schutz der natürlichen Ressourcen und die Förderung nachhaltiger Praktiken einsetzten. Vor allem aber wuchs das Bewusstsein für die Auswirkungen der technologischen Entwicklung auf die globale Erwärmung, für die Folgen des Klimawandels auf das Leben der Menschen und für die Notwendigkeit kollektiver Maßnahmen zur Lösung dieses Problems. Dies hat zu einem Wandel der sozialen Normen in Bereichen wie Recycling, Energieverbrauch und Verkehr geführt, stellt die Menschheit aber auch vor die Herausforderung, ein potenzielles Flüchtlingsproblem zu bewältigen, wenn Orte unbewohnbar werden, wie z. B. Küstenregionen.

Insgesamt hatten viele der Veränderungen im zwanzigsten Jahrhundert ihre Wurzeln in früheren Bewegungen und sozialen Veränderungen. Großbritannien hatte seine eigene Geschichte und seine eigenen Kämpfe, wenn es um den sozialen Wandel im 20. Jahrhundert ging, mit vielen der gleichen Themen und Bewegungen wie Amerika. Im 20. Jahrhundert beschleunigten und verstärkten sich diese Veränderungen aufgrund des technischen Fortschritts, der Globalisierung und anderer Faktoren erheblich. Die Postmoderne hat bei der Gestaltung kultureller und sozialer Normen im 20. Jahrhundert und darüber hinaus eine wichtige Rolle gespielt, vor allem in Bezug auf Fragen der Identität und Macht, und sie hat die Anerkennung der Vielfalt und Komplexität menschlicher Erfahrungen gefördert, einschließlich unterschiedlicher Perspektiven auf Geschlecht, Rasse, Sexualität und andere Identitätskategorien. Einerseits hat dies zu einer größeren Akzeptanz und Sichtbarkeit von Randgruppen und deren Kämpfen um Gleichberechtigung und Vertretung geführt.

Andererseits hat die weit verbreitete Nutzung von Smartphones, sozialen Medien und anderen digitalen Technologien, die die Art und Weise, wie Menschen miteinander kommunizieren und interagieren, verändert haben, neue soziale Normen und Erwartungen geschaffen, wie z. B. das Bedürfnis, ständig in Verbindung zu bleiben, und den Druck, online ein gepflegtes Erscheinungsbild zu präsentieren. Dies wurde mit Fragen der psychischen Gesundheit in Verbindung gebracht, und es gab eine größere Anerkennung der Bedeutung der psychischen Gesundheit und eine Abkehr von der Stigmatisierung psychischer Erkrankungen. Dies hat zwar zu einem besseren Zugang zu psychosozialen Diensten und zu einer größeren Bereitschaft geführt, offen über psychische Gesundheit zu sprechen, doch hat das Potenzial der sozialen Ansteckung, das durch die weit verbreiteten technologischen Entwicklungen noch verstärkt wird, Bedenken hinsichtlich einiger der Versuche geweckt, das, was von den Menschen als normal angesehen wird, zu erweitern. Gleichzeitig gibt es immer noch viele Herausforderungen, mit denen der Einzelne konfrontiert ist, wenn es um den Zugang zu psychosozialer Versorgung geht. Dazu gehören finanzielle Hürden, mangelnder Zugang zu Diensten in ländlichen oder abgelegenen Gebieten sowie Stigmatisierung und Diskriminierung im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen.

Die psychische Gesundheit stellt daher für viele Menschen nach wie vor eine große Herausforderung dar. Dies spielt auch eine Rolle in einer Gesellschaft, in der der Druck steigt, Verhaltensweisen als normal zu akzeptieren, die früher stigmatisiert waren. Es gibt Gründe für die Besorgnis über die Gefahr der Schädigung von Menschen, die auch eine Form der Stigmatisierung darstellt, und Pädophilie wurde zu Recht als Gefahr für Kinder stigmatisiert und erregte in den vergangenen Jahrzehnten große Aufmerksamkeit in den Medien. Es gibt jedoch sehr viele Verhaltensweisen, die als problematisch erkannt werden müssen und die oft mit psychischen Problemen zusammenhängen. Sie sollten zwar nicht stigmatisiert, aber auch nicht als normal hingenommen werden, sondern Besorgnis und Aufmerksamkeit erregen.

Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung beispielsweise neigen dazu sich selbst zu verletzen, um ihre Emotionen zu regulieren, Stress zu bewältigen oder um ein Gefühl der Kontrolle über ihr Leben zu bekommen. Ebenso können Menschen mit Depressionen Gefühle der Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit und Wertlosigkeit erleben, die zu Selbstverletzungs- oder Selbstmordgedanken führen können. Und natürlich gibt es auch Essstörungen wie Bulimie und Magersucht (Anorexia nervosa), die oft durch die Beschäftigung mit dem Körperbild und dem Gewicht gekennzeichnet sind, und Menschen mit diesen Störungen können sich selbst verletzen, um sich für vermeintliche Misserfolge zu bestrafen. Wir sehen also, dass es Bereiche im Leben gibt (und es gibt noch viele mehr), in denen es nicht ratsam ist, sie zu normalisieren und raten aufmerksam zu bleiben.

Dabei fällt mir eine seltene Erkrankung ein, Körperintegritäts-Dysphorie[iv](KD), auch bekannt als Körperintegritäts-Identitätsstörung[v](KII), bei der Betroffenen den starken und anhaltenden Wunsch verspüren, gesunde Körperteile wie Gliedmaßen oder bestimmte Sinnesorgane zu amputieren oder anderweitig zu deaktivieren, um ein Gefühl der Vollständigkeit oder Identität zu erlangen. Dieser Zustand wird als eine Art somatische Symptomstörung betrachtet, bei der sich die Betroffenen mit wahrgenommenen körperlichen Symptomen oder Defiziten befassen oder darunter leiden. Obwohl die genauen Ursachen der KD nicht bekannt sind, geht man davon aus, dass es sich um ein komplexes Zusammenspiel von psychologischen, neurologischen und umweltbedingten Faktoren handelt. Natürlich ist es wichtig, dass Menschen mit KD zwar den starken Wunsch haben können, ein gesundes Körperteil zu amputieren, aber es ist weder empfehlenswert noch ethisch vertretbar, solche Operationen durchzuführen. Stattdessen umfasst die Behandlung in der Regel eine Kombination aus Psychotherapie, Medikamenten und anderen unterstützenden Maßnahmen, die den Betroffenen helfen, ihre Symptome zu bewältigen und ihre Lebensqualität zu verbessern.

Die Beziehung zwischen der Körperintegritäts-Dysphorie und der Gender-Dysphorie (GD) wird teilweise kontrovers diskutiert. Bei beiden Erkrankungen geht es zwar um ein beunruhigendes Gefühl der Inkongruenz zwischen dem eigenen Körper und dem eigenen Selbstverständnis, aber sie unterscheiden sich in ihrer spezifischen Art und ihrem Schwerpunkt. Bei der KD geht es um den Wunsch, gesunde Körperteile zu amputieren oder anderweitig zu verändern, um ein Gefühl der Vollständigkeit oder Identität zu erlangen, während bei der GD ein tiefsitzendes Gefühl des Unbehagens oder der Verzweiflung im Zusammenhang mit der Genderidentität einer Person besteht, das mit dem Wunsch nach einer körperlichen Veränderung verbunden sein kann, aber nicht muss. Einige Forscher vermuten, dass KD und GD bestimmte zugrundeliegende neurologische oder psychologische Mechanismen gemeinsam haben, z. B. eine Diskrepanz zwischen dem Körperbild einer Person und ihrem inneren Selbstverständnis.

Seltsamerweise wird die Gender-Dysphorie mit einer affirmativen Therapie oder einer genderbestätigenden Betreuung als wirksamer Behandlungsansatz behandelt. Ziel der affirmativen Therapie ist es, den Betroffenen dabei zu helfen, sich in ihrem Körper wohler und authentischer zu fühlen und den mit der Gender-Dysphorie verbundenen Leidensdruck zu verringern. Dies kann durch Psychotherapie, aber auch in manche Länder durch eine Reihe von Maßnahmen wie Hormontherapie, chirurgische Eingriffe umfassen, die darauf abzielen, den physischen Körper einer Person mit ihrer Genderidentität in Einklang zu bringen. Dieses ist merkwürdig, denn wenn Menschen mit KD durch den Wunsch, ein gesundes Körperteil zu amputieren, unter erheblichem Leidensdruck stehen können, gilt es nicht als ethisch vertretbar oder empfehlenswert, solche Operationen durchzuführen, da sie mit erheblichen Risiken und potenziellen Schäden verbunden sind. Bei GD ist dieses Bedenken nicht gegeben.

Ich denke, dass diejenigen, die wegen der Diskrepanzen bei der Akzeptanz der Behandlung von Geschlechtsdysphorie Alarm schlagen, weil sie befürchten, dass diese auch in Deutschland Fuß fassen könnte, oder die wegen einer Reihe von Fragen zu den ethischen und sozialen Auswirkungen neuer Technologien oder der Frage, wie die Nutzung dieser Technologien unser Verständnis von Identität, Handlungsfähigkeit und Autonomie verändert, Alarm schlagen, die Tatsache hervorheben, dass bestimmte Gruppen es anscheinend eilig haben, Bedenken zu beseitigen, die in der Vergangenheit Teil dessen waren, was wir als gesunden Menschenverstand bezeichnet haben – oder war der gesunde Menschenverstand nur eine Modeerscheinung?


[i] Feminism Against Progress (p. 77). Swift Press. Kindle Edition

[ii] Harrington, Mary. Feminism Against Progress (p. 77).

[iii] https://warwick.ac.uk/fac/arts/english/currentstudents/undergraduate/modules/fictionnownarrativemediaandtheoryinthe21stcentury/manifestly_haraway_—-_a_cyborg_manifesto_science_technology_and_socialist-feminism_in_the_….pdf

[iv] Body Integrity Dysphoria (BID)

[v] Body Integrity Identity Disorder (BIID)

Nachthimmel

Die silberne Kugel am Nachthimmel, die unseren Horizont überquert, wie ein Daimon des Planeten Erde, der unsere Wellen bewegt und verschiebt. Wenn wir schlafen und manchmal träumen, wie bewegt er unsere Seele? Wachsen und schwinden wir und wachsen wir, während wir uns in unserer Unruhe drehen?

Und sind wir wach, wenn das Sonnenlicht kommt? Sehen wir, wie sich die Schöpfung ausbreitet? Spüren wir die Wellen der Gefühle, die Sehnsüchte und Vorstellungen des Herzens? Oder zucken wir nur mit den Schultern und schieben sie verächtlich beiseite und erfreuen uns stattdessen an den vielfältigen Geschmäckern und der Füllung unserer Mägen?

Sättigung und Stimulation vonTeller, Tassen und Gläser treten an die Stelle des Gefühls, das aufsteigt, wenn der Daimon vorübergeht. Selten nehmen wir uns die Zeit, das kosmische Spektakel unserer Bewegung um unseren Stern zu betrachten und uns zu fragen, ob wir wirklich wissen, wo genau wir sind.

Rationalität und Absicht verblassen, wenn wir unsere kreisende Bewegung wahrnehmen und sie wie die Wellen auf dem Meer spüren, die unsere Emotionen aufwirbeln. Alle sichtbaren und unbekannten Ursachen, die uns zum Ausdruck bringen, erinnern uns daran, dass unsere Existenz einem Geheimnis entspringt.

Unser Bewusstsein des Augenblicks, das nur selten unsere Automatisierung durchbricht, explodiert in der Erkenntnis, verblasst aber so schnell wie die Kugel, die den Himmel schmückt und uns auf unserer Reise begleitet. Sie leuchtet so hell, aber sie verblasst und verschwindet aus unserem Blickfeld und unserem Sinn.

Rob

Autoritarismus und Moral

Der Aufstieg der Tyrannei in der Politik und in den zivilen Beziehungen

https://de.wikipedia.org/wiki/Autoritarismus

Im Allgemeinen besteht kein eindeutiger Konsens darüber, ob der Autoritarismus in der westlichen Gesellschaft in den letzten Jahren zugenommen hat, obwohl es Anzeichen dafür gibt, dass der Autoritarismus in einigen Ländern zugenommen hat, während er in anderen stabil geblieben oder sogar demokratischer geworden ist. Beispiele für Länder, in denen der Autoritarismus deutlich zurückgegangen ist, sind Spanien und Portugal nach dem Sturz der faschistischen Regime in den 1970er Jahren. Im Allgemeinen waren viele Menschen nach dem Ende des Kalten Krieges optimistisch, und die Zukunft hätte rosig ausgesehen, wäre da nicht der drohende Verdacht des Klimawandels gewesen.

Ein Indikator für den Anstieg des Autoritarismus, der uns heute Sorgen bereitet, ist jedoch die wachsende Zahl populistischer Bewegungen und Führer in vielen westlichen Ländern. Diese Bewegungen appellieren oft an die Emotionen und Ängste der Öffentlichkeit und versuchen, die Macht in den Händen eines einzelnen Führers oder einer Gruppe zu zentralisieren. Beispiele dafür sind natürlich der Aufstieg rechtsextremer Parteien in Europa, wie der Alternative für Deutschland (AfD) und des Front National in Frankreich, aber auch innerparteiliche Verschiebungen, wie eine zunehmende Intoleranz gegenüber Ausländern, die vor allem in Oppositionsparteien auftritt, die bei rechtsextremen Wählern wildern, aber auch in Parteien, die mit großen Mehrheiten regieren und sich in strengen Gesetzen ausdrücken, sind ein Indikator.

Ein weiterer Indikator ist die Aushöhlung demokratischer Institutionen und Normen wie der Rechtsstaatlichkeit, der Pressefreiheit und einer unabhängigen Justiz. Die Kritik am Journalismus oder sogar an Richtern als „Volksfeinde“ wurde beispielsweise in Großbritannien von politischen Interessen geleitet, und in einigen Ländern waren die Versuche, diese Freiheiten einzuschränken, die zu einer Aushöhlung der demokratischen Staatsführung führen könnten, zumindest teilweise erfolgreich. Auch die Reaktionen auf Proteste sind je nach den protestierenden Gruppen unterschiedlich ausgefallen. Das NATO-Bündnis setzt sich aus sehr unterschiedlichen Haltungen zur Demokratie zusammen. Besorgniserregend ist auch, dass allen Berichten zufolge Lügen in der Öffentlichkeit der westlichen Länder alltäglich geworden sind, was das Vertrauen in die Institutionen untergräbt. Insgesamt ist der Trend zum Autoritarismus ein komplexes und vielschichtiges Phänomen, das je nach Kontext und Land variiert.

Ich neige dazu, die Akzeptanz dieser Entwicklung mit Anzeichen von Autoritarismus in zivilen Beziehungen in Verbindung zu bringen, wo er sich als kontrollierendes, unterdrückendes und dominierendes Verhalten eines Partners gegenüber dem anderen manifestieren kann. Anzeichen für Unterdrückung in einer Beziehung können sein:

  1. Kontrolle: Ein Partner versucht, das Verhalten, die Handlungen und die Entscheidungen des anderen Partners zu kontrollieren, wobei er oft Angst, Einschüchterung oder Manipulation einsetzt, um diese Kontrolle zu erreichen.
  2. Ungleichgewicht der Macht: Ein Partner hat die meiste Macht in der Beziehung und trifft die meisten Entscheidungen, ohne den anderen Partner zu Wort kommen zu lassen oder zu berücksichtigen.
  3. Mangelnder Respekt: Ein Partner nimmt wenig oder gar keine Rücksicht auf die Gefühle, Meinungen oder Grenzen des anderen Partners.
  4. Ungleichheit: Ein Partner wird dem anderen gegenüber als minderwertig oder unterwürfig behandelt, und es wird von ihm erwartet, dass er den Wünschen und Bedürfnissen des anderen ohne Fragen nachkommt.

Mary Harrington, eine der interessantesten Schriftstellerinnen, die heute publizieren, Kolumnistin bei UnHerd und häufige Kommentatorin an anderer Stelle, beklagt in ihrem Buch „Feminismus gegen den Fortschritt[i], dass es an der Einsicht fehlt, dass das menschliche Leben in einem bestimmten Körper und in Beziehungen stattfindet. Sie sagt, dass eine Beziehung besser ist, wenn sie interaktiv ist, wenn die Rollen aufgewertet werden und die Stärken der Beteiligten genutzt werden, anstatt sich auf ihre Schwächen zu konzentrieren. Mary schreibt über ihre eigene Entwicklung: „In der Schule wurde mir gesagt, dass ich etwas über einen stabilen Bereich der kanonischen menschlichen Kultur lerne, der über die Jahrhunderte hinweg aufgebaut wurde.“ Doch als ich an die Universität kam, „wurde mir gesagt, dass diese dazu dienen, verdeckte Hierarchien von Klasse, Geschlecht, Rasse usw. zu festigen. Wie all dies mit der materiellen Welt, dem Druck des Überlebens oder den Anforderungen des physischen Lebens zusammenhängen sollte, war weniger klar.“  Ich habe einen ähnlichen Eindruck, auch wenn ich nie eine Hochschulausbildung absolviert habe, aber die Vorstellung, dass wir alle in irgendeiner Weise Opfer von unterdrückerischen Hierarchien sind, scheint sich in der Gesellschaft auf eine undurchschaubare Weise verbreitet zu haben, aber so, dass sie auch unsere intimen Beziehungen betrifft.

Es gibt natürlich viele Faktoren, die zu kontrollierendem, unterdrückendem und herrschsüchtigem Verhalten des einen Partners gegenüber dem anderen in einer Beziehung beitragen können. Ich habe viele Menschen getroffen, sowohl Männer als auch Frauen, die sich unsicher fühlen oder ein geringes Selbstwertgefühl haben, was dazu führen kann, dass sie versuchen, ihren Partner zu kontrollieren, um sich mächtiger und sicherer zu fühlen oder so zu erscheinen. Natürlich tun Männer und Frauen dies auf unterschiedliche Weise, aber der Effekt ist derselbe und oft kontraproduktiv, weil es sich falsch anfühlt und eine Angst vor dem Verlassenwerden entstehen kann, die dazu führt, dass solche unsicheren Menschen ihren Partner noch mehr kontrollieren, um zu verhindern, dass er oder sie sie verlässt oder zurückweist. Es war traurig zu sehen, wie weibliche Kollegen Angst davor hatten, dass ihre Männer bemerken könnten, wie glücklich sie in ihrem Arbeitsumfeld sind – vor allem bei solche, die mich baten, nicht neben ihnen zu stehen, wenn ihre Männer sie abholten.

Es gibt auch viele Menschen, die ein Kindheitstrauma erlitten haben, z. B. Missbrauch oder Vernachlässigung, was ebenfalls dazu beitragen kann, dass sie kontrollierende und dominierende Verhaltensweisen entwickeln, um mit ihren früheren Erfahrungen fertig zu werden. Es ist schon ironisch, dass manche Menschen, die in einem solchen Umfeld aufgewachsen sind, diese Verhaltensweisen in ihren eigenen Beziehungen weiterhin an den Tag legen. Ihr Mangel an Empathie scheint ein Schutz gegen Depressionen und andere Reaktionen auf ihre Vergangenheit zu sein. Leider gibt es auch Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, wie der narzisstischen Persönlichkeitsstörung, die zu kontrollierendem und dominierendem Verhalten in Beziehungen beitragen können. Und natürlich dürfen wir den Drogenmissbrauch – ob Alkohol oder Drogen – nicht außer Acht lassen, der ebenfalls zu kontrollierendem und dominierendem Verhalten beitragen kann, da er das Urteilsvermögen beeinträchtigt und die zugrunde liegenden emotionalen Probleme verschlimmern kann.

Es gibt jedoch Anhaltspunkte dafür, dass die Empathie in der westlichen Gesellschaft in den letzten Jahren generell abgenommen hat. Da Empathie die Fähigkeit ist, die Gefühle anderer zu verstehen und zu teilen, ist sie ein wesentlicher Bestandteil gesunder Beziehungen und sozialer Interaktion. Zu den weiteren, vielleicht übersehenen Indikatoren für einen Rückgang der Empathie in der westlichen Gesellschaft gehören der Rückgang der ehrenamtlichen Arbeit und des Engagements in der Gemeinschaft, die zunehmende politische Polarisierung und der Zusammenbruch des zivilen Diskurses, der es dem Einzelnen erschweren kann, sich in Menschen einzufühlen, die andere Ansichten vertreten. Auch unser Wandel hin zu einer individualistischeren Kultur war nicht hilfreich, was in viele Menschen zu einem Rückgang der Empathie und einer ausschließlichen Konzentration auf die eigenen Bedürfnisse und Wünsche geführt hat.

Moral als einigende Einfluss

Moral ist ein wenig in der Kritik geraten. Zum Beispiel gibt es Diskussionen darüber, ob es überhaupt eine universelle Moral gibt oder ob Moralität relativ ist und von kulturellen, historischen oder individuellen Faktoren abhängt. Es gibt auch Debatten darüber, ob moralische Ansprüche gerechtfertigt sind und wie sie begründet werden können. Einige Kritiker argumentieren auch, dass Moral oft als Werkzeug der Macht und Kontrolle verwendet wird, um bestimmte Verhaltensweisen zu fördern oder zu unterdrücken. Dies kann dazu führen, dass Moral als manipulativ und unterdrückerisch wahrgenommen wird, also was ist Moral?

Moral ist ein System von Grundsätzen, Werten und Überzeugungen darüber, was richtig und falsch, gut und schlecht, gerecht und ungerecht ist. Sie hilft, unser Verhalten und unsere Entscheidungen zu steuern, und spielt eine wichtige Rolle bei der Gestaltung unserer individuellen und kollektiven Identität. Kurz gesagt, unsere Moral oder Ethik sagt den Menschen, woher wir kommen oder zu welcher Gruppe wir gehören, die wir an ihrem Verhalten und nicht an ihrer Erscheinung oder gar Genetik erkennen. Dies bedeutet, dass Moral subjektiv und kulturell relativ ist, was bedeutet, dass verschiedene Individuen und Kulturen unterschiedliche Moralsysteme haben können und moralische Urteile komplex sein können und das Abwägen konkurrierender Werte und Überlegungen beinhalten.

Moral ist andererseits wichtig, weil sie erstens zur Förderung des sozialen Zusammenhalts und der Zusammenarbeit beiträgt, indem sie eine Reihe gemeinsamer Normen und Erwartungen bereitstellt, die darauf abzielen, Schaden für den Einzelnen und die Gesellschaft zu verhindern, indem sie zu angemessenem, verantwortungsvollem Verhalten ermutigen. Darüber hinaus kann Moral zu einem Gefühl der persönlichen Erfüllung und Bedeutung beitragen, indem sie dem Einzelnen hilft, nach vereinbarten Werten und Grundsätzen zu leben. Sie kann den Einzelnen auch dazu inspirieren, sich für eine bessere Welt einzusetzen, indem sie Gerechtigkeit, Gleichheit und Mitgefühl in Übereinstimmung mit diesen ursprünglichen Prinzipien fördert.

Welche Moral halten wir also für unsere Existenz als fühlende Wesen für angemessen? Kann der Autoritarismus überhaupt dazu gehören? Zugegeben, Autoritarismus, definiert als eine Regierungsform, die von einem starken und zentralisierten Führungsstil geprägt ist, kann eine bestimmte Moral oder Ethik vorschreiben oder durchsetzen. In diesem Sinne können autoritäre Regime eine moralische Agenda verfolgen, die bestimmte Verhaltensweisen und Werte unterstützt oder ablehnt, je nach den Zielen des Regimes.

Andererseits wissen wir aus Erfahrung, dass der Autoritarismus oft zur Unterdrückung der individuellen Freiheiten und Rechte führt, was moralische Bedenken aufwirft. In vielen Situationen haben wir den Autoritarismus als unmoralisch oder unethisch empfunden, weil er die Freiheit und die Rechte des Einzelnen einschränkt und die Möglichkeit zu moralischen Entscheidungen begrenzt. Die Wahrnehmung in Europa und Amerika während der Pandemie war, dass die verordneten Maßnahmen autoritär waren, aber als über die in China durchgeführten Maßnahmen berichtet wurde, sahen wir eine ganz andere Qualität, und wir erlebten Autoritarismus in Aktion.

Für mich ist der Moral die Chance, sich über Grundsätzen, Werten und Überzeugungen darüber, was richtig und falsch, gut und schlecht, gerecht und ungerecht ist, zu einigen, und der Zusammenhalt einer Gesellschaft zu fördern, um stärker in der Lage zu sein, die große Probleme, die auf uns zukommen, zu beherrschen. Jedoch, müssen wir die Autoritarismus verhindern, Fuß zu fassen, und es fängt in unsere zivilen Beziehungen an. In Ehen, Familien, Nachbarschaften, aber auch in politische Parteien, müssen wir die Grundlage für eine interaktive, kooperative, und stabile Gesellschaft legen, in der es keinen Platz gibt für die Unterdrückung der individuellen Freiheiten und Rechte.

Also wird Moral ein wichtiger Gegenstand der Diskussion und Reflexion bleiben, auch wenn ihre Bedeutung und Rolle in verschiedenen Bereichen und Kontexten wird weiterhin diskutiert und hinterfragt.


[i] Harrington, Mary. Feminism Against Progress (p. 12). Swift Press. Kindle Edition.

Die Chimäre des Krieges

Und die Sehnsucht nach Frieden

Unter einem weiten, grauen Himmel, auf einer weiten, staubigen, graslosen Ebene,
auf der nicht einmal eine Brennnessel oder eine Distel zu sehen war,
begegnete ich mehreren Männern, die gebeugt auf dem Boden gingen.
Jeder von ihnen trug auf seinem Rücken eine riesige Chimäre[i],
so schwer wie ein Sack Mehl oder Kohle oder wie die Ausrüstung eines römischen Fußsoldaten.
Aber das monströse Tier war kein totes Gewicht,
sondern umhüllte und bedrückte die Männer mit ihren kräftigen und elastischen Muskeln
und krallte sich mit ihren beiden riesigen Krallen in die Brust ihres Reittiers.
Ihr fabelhafter Kopf ruhte auf der Stirn des Mannes
wie eine jener schrecklichen Kaskaden,
mit denen antike Krieger den Schrecken des Feindes zu verstärken hofften.
Ich befragte einen der Männer, warum sie so gingen.
Er antwortete, dass er nichts wisse, weder er noch die anderen,
aber dass sie offensichtlich irgendwohin gingen,
da sie von einem unbezwingbaren Drang zum Gehen getrieben wurden.
Seltsamerweise schien sich keiner der Wanderer an dem wilden Tier zu stören,
das an seinem Hals hing und sich an seinem Rücken festkrallte:
Einer hatte gesagt, dass er es als einen Teil von sich selbst betrachtete.
Diese ernsten und müden Gesichter zeugten nicht von Verzweiflung.
Unter der strahlenden Kuppel des Himmels stapften sie mit ihren Füßen durch den Staub einer Erde, die so trostlos war wie der Himmel,
und gingen mit den resignierten Gesichtern von Menschen weiter, die dazu verurteilt waren,
 für immer zu hoffen.
So zog der Zug an mir vorbei und verschwand in der Atmosphäre des Horizonts an der Stelle,
an der sich der Planet der Neugierde des menschlichen Auges offenbart.
Mehrere Augenblicke lang bemühte ich mich hartnäckig,
dieses Mysterium zu begreifen;
 aber die unwiderstehliche Gleichgültigkeit stürzte sich bald auf mich,
und ich wurde dadurch noch schwerer niedergeschlagen
als sie durch ihre erdrückenden Chimären.

Aus der Sammlung Le Spleen de Paris von Charles Baudelaire.

Ich habe diese Prosa in einer Diskussion gelesen und war sofort ergriffen von dem drastischen Bild des Mannes, dem ein „wildes Tier am Hals hängt und sich in den Rücken krallt“, und dachte an den Krieg, wenn Menschen von einer Besessenheit getrieben werden, die nicht weniger wild und fordernd ist, die sie aber nicht als Besessenheit, sondern als Notwendigkeit zum Weitermarschieren erleben. Unser Wunsch zu verstehen, weicht dem Protest gegen den Wahnsinn, und eine Zeit lang wird die Gleichgültigkeit zurückgehalten, überwältigt uns aber schließlich als Abwehr gegen den Schmerz der Empathie.

Es ist verständlich, dass diese Unfähigkeit, mit den Kämpfenden mitzufühlen, deren unerträgliche Erfahrung unsere Vorstellungskraft herausfordert und Übelkeit hervorruft, zu der Forderung nach einem Ende des Krieges führt. Tausende von Menschen haben gegen den Krieg in der Ukraine protestiert und gegen die militärische Aufrüstung derjenigen, deren Land ausgelöscht wird. Der Ruf nach Diplomatie statt Waffen ist laut, und in die Wut mischen sich Frustration und Angst, und aus den Lautsprechern dringt die Panik, dass ein Weltkrieg mit all seinen Schrecken die Folge der Aufrüstung der Ukraine mit effektiveren Waffen sein könnte.

Niemand, der bei gesundem Verstand ist, kann einen Krieg wollen, sei es ein konventioneller Konflikt oder ein Atomschlag. Das Problem ist, dass diejenigen, die mit dieser „Riesenchimäre“ auf dem Rücken in die Schlacht ziehen, keine andere Perspektive haben, und die von Hass getriebenen Befehlshaber dieser Soldaten sind von ihrer eigenen Besessenheit überwältigt. Die so Besessenen hören nicht auf die Rufe nach Frieden, und für sie ist der einzig gangbare Weg zum Frieden das Ergebnis eines Sieges, und unter den Opfern gibt es eine vage Hoffnung, dass ihre Angreifer diese wilde Bestie nur dann loswerden und einen Weg zum Frieden finden könnten, wenn sie besiegt werden. Die Aussicht, überrannt und einer „kulturellen Säuberung“ unterworfen zu werden, macht sie in ihrem Kampf entschlossen.

Die Welt kann auch nicht tatenlos zusehen und nicht anerkennen, dass in der Vergangenheit die Politik sowohl der westlichen als auch der östlichen Regierungen diesen Konflikt verursacht hat, der vermeidbar war, aber diese Schimäre des Krieges hat den Tätern eine Ideologie der Vorherrschaft, eine heilige Mission und Visionen von Größe gegeben und Dissens und Opposition ausgeschlossen. Die Tatsache, dass ehemals angesehene russische Autoritäten aus den Fenstern hoher Gebäude fallen, ist ein Zeichen dafür, dass interne Konflikte rücksichtslos zum Schweigen gebracht wurden. Die einzige Möglichkeit, diesen Konflikt zu beenden, besteht darin, dass der Anstifter erkennt, dass er keinen Erfolg haben kann, aber selbst dann wird seine Ideologie fortbestehen, wenn die Menschen in Russland nicht in den Aufbau einer gemeinsamen Zukunft einbezogen werden. Einen Konflikt zu gewinnen ist eine Sache, eine friedliche Koexistenz zu gewinnen eine andere.

Hier muss sich der Westen fragen, ob wir in der Lage sind, einen kooperativen und nicht einen konkurrierenden Weg einzuschlagen. Solange wir glauben, dass wir tun können, was wir wollen, weil wir angeblich moralisch überlegen sind, werden wir nicht in der Lage sein, dies zu tun. Unsere Strategie des Globalismus hat sich als äußerst zerstörerisch erwiesen und hat nur den Oligarchen dieser Welt gedient, die mehr Milliardäre als je zuvor geschaffen haben, quasi eine herrschende Elite, deren Religion Profit und Wirtschaftswachstum ist. Es handelt sich praktisch um einen Dauerkonflikt ohne Waffen, aber mit fast ebenso vielen Opfern und Toten, mit einer großen Missachtung von Kulturen und Traditionen und einer Missachtung der menschlichen Schwächen und Bedürfnisse. Es ist wie eine Maschine, die die Welt durchkämmt, wobei die Umwelt von ihren Aktionen gleichermaßen betroffen ist.

Worin besteht letztlich der Unterschied zwischen dieser Maschine und der Chimäre, die die Menschen in den Krieg treibt? Ohne die Erkenntnis, dass die Menschheit in all ihrer Vielfalt eins ist und dass unsere Zukunft nur gemeinsam bewältigt werden kann, werden wir aussterben und der Planet wird eine andere Art an unserer Stelle gedeihen sehen. Wir haben es in der Hand, aber wir müssen zuerst die wilde Bestie zähmen, die vom russischen Volk Besitz ergriffen hat, und dann gemeinsam mit ihm nach Wegen suchen, unsere Unterschiede zu überwinden. Andernfalls wird die Bestie auch von uns Besitz ergreifen, und es wird keine Hoffnung mehr geben.


[i] Die Bezeichnung Chimäre leitet sich von einem Mischwesen der griechischen Mythologie ab. Die Chimära ist ein Feuer schnaubendes Ungeheuer, vorn Löwe, in der Mitte Ziege, hinten Drache, das von Bellerophon getötet wurde.

Böses Blut: Die Geschichte der EugenikAdam Rutherford

(Als Buch – Control: The dark history and troubling present of Eugenics)

Der BBC hat eine sechsteilige Serie auf seine Internetseite Sounds, geschrieben und präsentiert von Adam Rutherford, die die Geschichte der Eugenik verfolgt, wie sie schreiben „von ihren Ursprüngen in den bürgerlichen Salons des viktorianischen Großbritanniens über die Fitter-Familien-Wettbewerbe und Sterilisationsgesetze des Goldenen Zeitalters in den USA bis hin zu den völkermörderischen Schrecken in Nazi-Deutschland.“ Ich fand das Thema so verstörend und zugleich faszinierend, dass ich meine Leser in Deutschland darauf aufmerksam machen wollte. Wer sich die englische Sprache zutraut, möge die Serie einsehen, es befindet sich zurzeit hier:

https://www.bbc.co.uk/sounds/brand/m001fd39

Ich war mit dem Thema Eugenik noch nicht vertraut, dass im viktorianischen Großbritannien aus dem Denken des Sir Francis Galton hervorging, ein englischer Universalgelehrter des viktorianischen Zeitalters: Statistiker, Soziologe, Psychologe, Anthropologe, Tropenforscher, Geograf, Erfinder, Meteorologe, Proto-Genetiker, Psychometriker und Verfechter des Sozialdarwinismus, der Eugenik und des wissenschaftlichen Rassismus. Es handelte sich um eine Theorie zur Züchtung besserer Menschen, die neue biologische Ideen mit dem Erhalt des Imperiums und dem rigiden Snobismus der Bourgeoisie verband. Die Ideen gewannen jedoch schnell an Schwung und wurden von einer Vielzahl von Wissenschaftlern, Sozialreformern und Schriftstellern als moralisches und politisches Bestreben zur Lösung drängender sozialer Probleme aufgegriffen. Diese „Eugeniker“ glaubten, dass wir uns eine bessere Zukunft ohne Krankheiten und Behinderungen, ja sogar ohne Kriminalität und Armut schaffen könnten, indem wir die richtigen Menschen dazu ermutigen, Kinder zu bekommen, und andere davon abhalten, dies zu tun. Die Befürworter sahen darin eine „edle Kunst“.

Die Geschichte gipfelt im Ersten Internationalen Eugenik-Kongress von 1912. Er wurde von der britischen Eugenics Education Society organisiert unter Leitung von Leonard Darwin. 400 Delegierte waren im Hotel Cecil in South Kensington London untergebracht, um die Wissenschaft – und die Ideologie – der besseren Züchtung zu propagieren und zu entwickeln. Zu den herausragenden Teilnehmern zählte Winston Churchill, Erster Lord der britischen Admiralität, Richard Webster, Oberster Richter von England und Wales und Arthur Balfour, sowie die Botschafter aus Norwegen, Griechenland und Frankreich. In seiner Eröffnungsrede erklärte Darwin, dass die Einführung von Prinzipien zu einer Zucht besserer Menschen Mut verlange. Ein globaler Kreuzzug war in Bewegung gekommen und weitere Internationaler Eugenik-Kongressen fand in den Jahren 1921 und 1931 statt.

Wie Adam Rutherford deutlich macht, diese mitreißende utopische Rhetorik implizierte andererseits die dunkleren Implikationen der eugenischen Ideen: Das Schicksal derjenigen, die als „untauglich“ gelten? Was sollte mit ihnen geschehen?

In der zweiten Folge der Serie, wird der Schlachtruf weißer Rassisten auf einer „Unite the Right“ Kundgebung in Charlottesville 2017, „Ihr werdet uns nicht ersetzen“ thematisiert. Sie meinten damit die Vorstellung, dass Einwanderer und Farbige durch die Vielzahl an Kinder, die sie gebaren, die dominante weiße Menschen ersetzen könnten. Eine ähnliche Vorstellung, wie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, als Millionen von Einwanderern aus Süd- und Osteuropa auf Ellis Island ankamen, die die amerikanische Kultur erfasste. Die sogenannten „alteingesessenen“ Amerikaner – nicht Ureinwohner, sondern eine weiße Elite, die die Industrie und die Regierung beherrschte – schlossen sich der „Ersatztheorie“ und der eugenischen Idee des „Rassenselbstmords“ an. The Great Gatsby, ein Roman von F. Scott Fitzgerald aus dem Jahr 1922, thematisierte diese Stimmung und führt uns in die Welt der Superreichen, ihrer Parteien und ihrer Politik.

Inmitten dieser fiebrigen Zeit des kulturellen und wirtschaftlichen Wandels wird das Eugenics Record Office (ERO) in Cold Spring Harbor, New York, USA gegründet. Unter der Leitung von Charles Davenport und Harry Laughlin wurde es von der Carnegie Institution of Washington’s Station for Experimental Evolution gegründet und später von deren Abteilung für Genetik verwaltet, und zu einem Hauptquartier für die wissenschaftliche und politische Förderung der Eugenik.

Das Notquotengesetz von 1921 hatte die Einwanderung so wirksam reduziert, dass der Kongress sich beeilte, das Quotensystem dauerhaft einzuführen. 1924 hat die eugenisch geprägte Anti-Immigranten-Bewegung ihren Sieg errungen – Amerika schließt mit dem Einwanderungsgesetz von 1924 (Johnson-Reed-Gesetz) seine Tore, und der Zustrom von Einwanderern wird fast vollständig gestoppt. Um die Einwanderung weiter einzuschränken, führte dieses Gesetz erweiterte Quoten für die „nationale Herkunft“ ein, ein äußerst restriktives und quantitativ diskriminierendes System. Das Quotensystem sollte bis 1965 das wichtigste Mittel zur Bestimmung der Zulässigkeit von Einwanderern in die Vereinigten Staaten bleiben.

Im Folge 3, wird erklärt, wie im Amerika des 20. Jahrhunderts es einen Kampf um die Geburtenkontrolle gab – ein Kampf, wie wir aus den Medien entnehmen, der bis heute andauert. Es wurde zunächst diskutiert, wer daran gehindert werden sollte, Kinder zu bekommen, und wer das entscheiden darf. Bereits im Jahr 1907 verabschiedete Gouverneur J. Frank Hanly das erste staatliche „Eugenikgesetz“, dass die Sterilisation für bestimmte Personen in staatlicher Obhut vorschrieb. Staatliche Einrichtungen erhielten die Befugnis, Menschen zu sterilisieren, die als „degeneriert“ galten – oft gegen ihren Willen. Der Oberste Gerichtshof von Indiana erklärte das Gesetz von 1907 1921 für verfassungswidrig und berief sich dabei auf die Verweigerung eines ordnungsgemäßen Verfahrens gemäß dem vierzehnten Verfassungszusatz. Das Gesetz von 1927 setzte die Sterilisation wieder ein und fügte Berufungsmöglichkeiten hinzu. Soweit bekannt, wurden mindestens 2.500 Menschen in staatlicher Obhut sterilisiert.

Als Gegensatz, wurden im gleichen Zeitraum die Frauen immer gebildeter, selbstbewusster und sexuell befreiter. Junge Männer und Frauen legten die schwerfälligen Umgangsformen und Moralvorstellungen der Generation ihrer Eltern ab und wurden in ihrer Kleidung, ihrem Verhalten und ihrer Einstellung lockerer. Junge Frauen schnitten sich die Haare, kürzten ihre Röcke, tranken Alkohol, rauchten, und schminkten sich. In den Roaring Twenties begannen sowohl junge Frauen (Flappers) als auch junge Männer den Charleston zu tanzen und die Frauen erhalten das Wahlrecht. Es kam zu ungewollten Schwangerschaften, aber Verhütung war immer noch illegal und ein absolutes Tabu. Die Pionierin Margaret Higgins Sanger, auch bekannt als Margaret Sanger Slee, eine amerikanische Aktivistin für Geburtenkontrolle, Sexualpädagogin, Schriftstellerin und Krankenschwester, setzt sich jahrzehntelang dafür ein, dass Frauen Zugang zu Verhütungsmitteln erhalten – nur so können sie ihrer Meinung nach wirklich frei sein. Sie machte den Begriff „Geburtenkontrolle“ populär, eröffnete die erste Klinik für Geburtenkontrolle in den Vereinigten Staaten und gründete Organisationen, aus denen sich die Planned Parenthood Federation of America entwickelte.

Im letzten Teil der Folge erzählt Elaine Riddick, die im Alter von 14 Jahren nach einer gewaltsamen Vergewaltigung schwanger geworden war, wie der Eugenik-Ausschuss des Staates North Carolina beschloss, dass sie keine weiteren Kinder bekommen sollte, und sie sterilisierte ohne ihre Zustimmung. Riddick behauptet, der Grund für die Sterilisation ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung sei gewesen, dass der Staat North Carolina sie als „schwachsinnig“ eingestuft habe, ein entwürdigender Begriff, der in der Eugenik häufig verwendet wird. Vor kurzem erzählte sie ihre bewegende Geschichte in dem von Life Dynamics, Inc. produzierten Dokumentarfilm Maafa21: Black Genocide in 21st Century America.

Die deutsche Hinwendung zum Thema Rassenhygiene oder „Rassenreinigung“ in der Mitte und am Ende des neunzehnten Jahrhunderts spiegelt das internationale Interesse an zwei Ideen wider: Zum einen, die Vervollkommnung der Menschheit und zum zweiten, die Gefahr eines raschen Bevölkerungswachstums in den unteren sozioökonomischen Schichten. Für viele schien die Verbesserung der genetischen Basis einer Nation durch die selektive Züchtung von Menschen mit „idealen“ körperlichen Merkmalen in greifbarer Nähe. Folglich sterilisierte der NS-Staat im Namen der Eugenik Hunderttausende gegen ihren Willen, ermordete behinderte Kinder und startete ein Programm des Völkermords.

Adam Rutherford fragt Warum? Wie er sagt, glauben wir gerne, dass die Gräueltaten der Nazis eine einzigartige Abweichung und ein grotesker historischer Ausreißer waren. Jedoch stellt es sich heraus, dass führende amerikanische Eugeniker und Gesetzgeber wie Madison Grant und Harry Laughlin viele der Naziprogramme inspiriert haben, von der Massensterilisation derjenigen, die als „untauglich“ galten, bis hin zu den Nürnberger Gesetzen, die die Heirat von Juden und Nichtjuden verboten. Vor dem Zweiten Weltkrieg betrachteten viele Eugeniker in aller Welt das Nazi-Regime mit neidischer Bewunderung. Nur, die Nazis gingen weiter und schneller als alle anderen vor ihnen. Aber, letztendlich ist die Geschichte der nationalsozialistischen Eugenik jedoch eine Geschichte internationaler Verbindungen und Kontinuität. Zwei bis drei Jahrzehnte bevor Hitler an die Macht kam, führten amerikanische Eugeniker eine Kampagne zur Schaffung einer weißen, nordischen Herrenrasse, blond und blauäugig.[i]

Deutsche Biologen und Anthropologen begannen früh, sich von der theoretischen Beschäftigung mit dem Thema Rasse zu einem eher praktischen Ansatz in der Rassenhygiene zu bewegen. Eugen Fischer, Fritz Lenz und Erwin Baur schlossen sich zusammen und schrieben 1921 den Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, ein weit verbreitetes Lehrbuch. In den 20er Jahren wurde ein gewisser Adolf Hitler darauf aufmerksam, und Adolf Hitler studierte die amerikanische Eugenik, die amerikanischen eugenischen Gesetze und die amerikanischen eugenischen Theorien, und er gab offen zu, dass er sie bewunderte. „Flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl. So sollte laut Adolf Hitler jeder deutsche Junge sein. Um die „Reinhaltung des gesunden Volkskörpers“ zu gewährleisten, verabschiedeten die Nationalsozialisten am 14. Juli 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Damit wurde die Grundlage für die Verfolgung, Ausgrenzung und später Ermordung von Menschen mit psychischen Krankheiten geschaffen.“[ii] Das Thema der Zwangssterilisation im Dritten Reich wurde von der MDR bearbeitet. Rund 350.000 bis 400.000 Menschen, die als „erbkrank“ galten wurden während der NS-Zeit zwangssterilisiert. Selbst wer in der Schule schlechte Noten bekam, wurde schnell verdächtigt, ein „Idiot“ zu sein oder an „angeborenem Schwachsinn“ zu leiden.

Hitler nahm seinen bereits vorhandenen, in Deutschland verbreiteten Antisemitismus auf und verpackte diesen Rassismus in die Idee der Eugenik, um seine Theorien wissenschaftlich und medizinisch zu rechtfertigen, und tauschte dann das Wort „nordische Rasse“ gegen „arische Rasse“ aus, um das Streben der Nazis nach der Herrenrasse zu rechtfertigen. Ich brauche niemand in Deutschland über die weiteren Konsequenzen berichten.

In Folge 5 spricht Adam Rutherford über die Verquickung von Wissenschaft und Eugenik. Ein Hauptziel der Eugenik im 20. Jahrhundert war die Beseitigung genetischer Defekte in einer Bevölkerung. Wie bereits erwähnt, verfolgten viele Länder dieses Ziel mit staatlich gelenkten Programmen zur unfreiwilligen Sterilisation und sogar zur Ermordung. Rutherford befasst sich mit der Wissenschaft, die hinter dieser dunklen Geschichte steht, aber nimmt auch die Möglichkeiten und Herausforderungen, die die Wissenschaft heute bietet, in Betracht.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts gelang Gregor Johann Mendel OSA, österreichischer Biologe, Meteorologe, Mathematiker, Augustinermönch und Abt der Abtei St. Thomas in Brünn, Markgrafschaft Mähren ein Durchbruch. Abt Cyril Napp hatte 1854 ihn erlaubt, im Kloster ein umfangreiches Versuchsprogramm zur Hybridisierung zu planen. Mendel entschied sich für seine Studien mit der Erbse (Pisum sativum), weil es zahlreiche unterschiedliche Sorten gab, die sich leicht kultivieren und die Bestäubung kontrollieren ließen, und weil der Anteil der erfolgreich gekeimten Samen hoch war. Durch die Züchtung von Erbsenpflanzen und die Beobachtung, wie bestimmte Merkmale weitergegeben wurden, erkannte Mendel, dass es Einheiten – kleine Informationspakete – geben musste, die die Merkmale bestimmten. Er hatte quasi das Gen entdeckt.

Natürlich inspirierten seine Erkenntnisse die Eugeniker, und vor allem ab den 1900er Jahren wurde spekuliert, dass, wenn Merkmale durch bestimmte Gene vererbt werden, ihre Politik Menschen mit „schlechten“ Genen davon abhalten sollte, Kinder zu bekommen. Heute spricht man von „guten Genen“, und Mendels Ideen werden immer noch in Klassenzimmern verwendet, um über Merkmale wie die Augenfarbe zu unterrichten. Die Eugeniker glaubten jedoch, dass sich Mendels einfache Erklärungen auf alles anwenden ließen, von der so genannten „Schwachsinnigkeit“ über Kriminalität bis hin zur Armut.

Adam Rutherford weist daraufhin, dass wir auch heute davon das Wissen anwenden, dass bestimmte genetische Bedingungen auf mendelsche Weise weitergegeben werden. Die Achondroplasie, die zu Kleinwuchs führt, ist ein Beispiel dafür und wird durch eine einzige genetische Variante verursacht. Adam Rutherford sprach mit Professor Tom Shakespeare, der an Achondroplasie leidet und einen Rollstuhl benutzt, über diese Krankheit, über seine eigene Entscheidung, Kinder zu bekommen, obwohl er wusste, dass die Krankheit vererbbar ist – und über die Reaktion der medizinischen Fachwelt. Er hat zwei Kinder, die beide ebenfalls an Achondroplasie leiden; seine Tochter Ivy ist Sozialarbeiterin, und sein Sohn Robert ist Beamter.

Rutherford geht auch der Frage nach, wie Genetik heute in den Schulen gelehrt wird – und wie gefährlich es ist, sich auf Mendels verlockend einfache, aber irreführende Darstellung zu verlassen,

In der letzten Folge der Serie stellt Adam Rutherford jedoch die Frage, ob wir heute am Beginn eines „Neogenik“-Zeitalters stehen, in dem Spitzentechnologien und die Macht der persönlichen Entscheidung die Art von genetischer Perfektion erreichen könnten, die Eugeniker im 20. Jahrhunderts anstrebten. Er spricht über den Fall aus dem Jahr 2018, als ein chinesischer Wissenschaftler illegal versuchte, das Genom zweier Embryonen präzise zu verändern, was nicht wie beabsichtigt funktionierte und Gefahren für die danach geborenen Zwillingsmädchen mit sich brachte. Später wurden Lulu und Nana versteckt und ihr Gesundheitszustand ist geheimnisumwittert. Im Grunde waren sie die ersten Designer-Babys, und Rutherford spekulierte, ob es möglich sei, dass solche Experimente weiterhin im Geheimen durchgeführt würden.

Aber auch andere technologische Entwicklungen sind bekannt geworden, die die Fortpflanzung verändern könnte: Bei der In-Vitro-Fertilisation (IVF), eine komplexe Reihe von Verfahren zur Unterstützung der Fruchtbarkeit oder zur Vorbeugung genetischer Probleme und zur Unterstützung der Empfängnis eines Kindes, können mehrere lebensfähige Embryonen erzeugt werden, und ein polygenes Screening könnte dazu dienen, zwischen ihnen zu wählen.

Aber, wie Rutherford feststellt, das zunehmende Verständnis und die Kontrolle über unsere Genetik wird verständlicherweise von einigen als Bedrohung angesehen – als eine unvermeidliche Kraft zur Spaltung der Gesellschaft. Doch anstatt zuzulassen, dass die Genetik die Menschen trennt und in eine Rangordnung bringt, gibt es vielleicht eine Möglichkeit, sie aktiv zu nutzen, um die Gleichheit zu fördern. Professorin Paige Harden, der die Auffassung vertritt, dass die genetische Forschung über individuelle Unterschiede zwischen Menschen mit fortschrittlichen und egalitären sozialen Zielen vereinbar ist, stellt ihren Vorschlag für eine anti-eugenische Politik vor, die sich die genetischen Informationen zunutze macht.

Die Serie ist gut gemacht und das Buch zur Serie kann hier gekauft werden:


[i] https://alschner-klartext.de/2022/09/01/ein-lieblingsprojekt-der-amerikanischen-eugenik-bewegung-war-deutschland/

[ii] https://www.mdr.de/geschichte/ns-zeit/politik-gesellschaft/zwangssterilisation-euthanasie-gesetz-zur-verhuetung-erbkranken-nachwuchses-100.html

Wie Schlau Wir Sind!

Im Artikel „So viel Sexismus steckt in Darwins Thesen“ von Eva Obermüller auf der Seite science.ORF.at haben wir ein weiteres Beispiel für die Verzerrung historischer Fakten, um die moderne Sichtweise als „die wahre“ darzustellen. Es kann überhaupt keine Frage sein, ob Darwin ein Kind seiner Zeit war, natürlich war er das, aber selbst Obermüller muss zugeben, dass er gegen die Sklaverei war, was nicht für ein bigottes Weltbild spricht. Darwin war vor allem ein Beobachter, und seine Skizzen und Notizen waren die Sammlung von Beobachtungen, nicht ein abschließendes Urteil über das, was er beobachtete. In manchem mag er sich getäuscht haben, aber ihm zu einem Rassist zu machen ist unverantwortlich.

https://science.orf.at/stories/3211096/

Misogynie, Frauenhass und Frauenfeindlichkeit sowie Sexismus werden heute oft als Synonyme verwendet. Aber um „frauenfeindlich“ zu sein, muss man Frauen hassen oder zumindest feindselig sein, was bei Darwin überhaupt nicht der Fall ist. Stattdessen beobachtete er die Rollen von Männern und Frauen in den Gesellschaften seiner Zeit und bestätigte den Eindruck, dass Frauen sich oft den Männern unterordneten. Das Patriarchat war offensichtlich vorherrschend. Typischer weise benutzen die von zitierte Quellen ebenfalls zweideutige Formulierungen: „In „Die Abstammung des Menschen“ schreibe er das mehr oder weniger wortwörtlich: „…hence man has ultimately become superior to woman.“ („daher ist der Mann der Frau letztlich überlegen geworden“).“ Es gibt keinen Kontext aus dem das „daher“ kommt, also warum er zum dem Schluss kommt ist im Artikel unklar geblieben.

Die als Klage zu verstehende Darstellung seiner „zimperlichen Beschreibung“ der geschlechtsspezifischen Selektion tut so, als ob Darwin in der Lage wäre, eingehende Studien über einzelne Tierarten zu konsultieren und deren sexuelle Anziehung psychologisch zu beschreiben. Stattdessen befindet er sich auf einer Reise, sogar im übertragenen Sinne, und steht am Anfang. Es bedurfte noch vieler Studien, um seine Thesen zu bestätigen oder zu widerlegen, und die Tatsache, dass er sich überhaupt von den bisherigen Vorstellungen seiner Zeit abgesetzt hat, ist ihm hoch anzurechnen. Natürlich weiß „man heute, dass sich die Vorlieben selbst bei vielen Tieren ändern können, mit den Umweltbedingungen, der Ernährung, den Hormonen oder dem Alter.“ Aber als Vorwurf an dem Mann, der 1871 das Werk veröffentlich hat, ist es viel zu billig.

Stattdessen hat man den Eindruck, dass sich hier einige Leute profilieren, die das nur können, indem sie jemanden diffamieren. Obermüller macht mit, indem sie die kritischen Thesen verdeutlicht und radikalisiert, mitsamt der Überschrift als Köder, um mehr Klicks zu bekommen. Es ist leider typisch für unsere Zeit, die darauf angewiesen zu sein scheint, die Schulter, auf der wir alle stehen, zu diskreditieren und uns selbst zu loben: „Wie schlau wir sind, und wie dumm die Leute damals waren!“ Nur, Darwin machte sich auf den Weg und bereiste die Welt, um sie zu verstehen, anstatt in einem bequemen Büro zu sitzen, über Büchern zu brüten und die Arbeit von verdienten Leuten zu kritisieren.

Hoffnung als Prinzip

Vor kurzem habe ich ein Zitat gelesen, das unsere Gegenwart optimal zusammenfasst: „Die Krise“, sagte Antonio Gramsci, ein italienischer marxistischer Philosoph, Journalist, Sprachwissenschaftler, Schriftsteller und Politiker, „besteht darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht in die Welt kommen kann.“

Wie so oft sind die Marxisten zwar gute Analytiker, aber schlechte politische Realisten. Der Marxismus ist als philosophische Anthropologie, als Geschichtstheorie, als wirtschaftliches und vor allem als politisches Programm gescheitert, zumindest als politisches Programm. Vor allem der sowjetische Marxismus, wie er von Wladimir Iljitsch Lenin entwickelt und von Josef Stalin modifiziert wurde, war eine Katastrophe. Die chinesische Variante des Marxismus-Leninismus von Mao Zedong war möglicherweise noch katastrophaler, und die Nachwirkungen prägen Russland und China noch immer.

Marx war ein Theoretiker und glaubte, dass jede Erkenntnis eine Kritik der Ideen beinhaltet. In seinem Werk wimmelt es von Begriffen (Aneignung, Entfremdung, Praxis, schöpferische Arbeit, Wert usw.), die er von früheren Philosophen und Ökonomen übernommen hatte. Er war also kein Empiriker, und statt sich Wissen durch direkte und indirekte Beobachtung oder Erfahrung anzueignen, arbeitete er mit Theorien und seiner eigenen Interpretation der Geschichte. In vielem mag er richtig gedeutet haben, aber seine Theorien waren missbrauchsanfällig, wie die Geschichte bewies.

Erich Fromm, der sich selbst als Marxist bezeichnete, schrieb: „Seit dem 18. Jahrhundert sind viele ethische Theorien entwickelt worden – einige prestigeträchtigere Formen des Hedonismus, wie der Utilitarismus, und einige streng anti-hedonistische Systeme, wie die von Kant, Marx, Thoreau, und Schweitzer. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs ist unsere heutige Zeit jedoch weitgehend zur Theorie und Praxis des radikalen Hedonismus zurückgekehrt“. Später im Buch schreibt er: „Marx lehrte, dass Luxus ein ebenso großes Laster sei wie Armut, und dass es unser Ziel sein sollte, viel zu sein, statt viel zu haben.“ Fromm reiht diese Aussage von Marx neben Zitate aus dem Lukasevangelium von Jesus, Aussagen von Meister Eckhart und Lehren von Buddha und unterscheidet damit sein Verständnis von „dem wirklichen Marx, dem radikalen Humanisten“, von den „üblichen Verfälschungen des Sowjetkommunismus“.

Die Idee, dass eine „alte Welt“ sterben muss, um eine „neue Welt“ zu gebären, ist ebenfalls sehr alt, und die Geschichte ist voll von Konflikten, die davon zeugen, wie radikal alte Paradigmen verteidigt werden und zahlreiche Märtyrer das Leben gekostet haben. Im Achsenzeitalter, der Periode von etwa 800 bis 200 v. Chr., wurde die Aufforderung, zurückzutreten und zu analysieren, in vielen Kulturen als Ablehnung der Götter und Bedrohung der Zivilisation geahndet und mit dem Tod bestraft. Andersdenkende in Religion und Philosophie wurden für ihre Ketzerei mit ähnlichen Strafen belegt, und selbst berühmte Namen wie Sokrates und Jesus von Nazareth wurden wegen Gotteslästerung und Verführung getötet. Kein Wunder also, dass sich die Menschen im postreligiösen 20. Jahrhundert an alte Wirtschaftsparadigmen klammern, auch wenn diese offensichtlich bankrott sind, weil die Alternativen wenig Hoffnung zu machen scheinen. Die Postmoderne, die darauf aus ist, alle Konventionen zu dekonstruieren, zeigt kaum Perspektiven auf, stattdessen entstehen aus Mangel an Innovation alte Ideologien wie der Marxismus, obwohl diese bereits bankrott sind.

Erich Fromm hat versucht, eine Synthese der Weisheit der Welt zu schaffen, um ein neues Paradigma, einen realistischen Weg in die Zukunft zu entwickeln, aber das ist viel komplizierter als die Dekonstruktion der bestehenden Ordnung, die die bevorzugte Strategie der Postmodernen von heute ist. Es stimmt, dass die Veränderungen, die notwendig sind, um aus der Sackgasse herauszukommen, viel zu spät kommen, und die Bewohnbarkeit der Welt für die Menschen ist bereits gefährdet. Es stimmt auch, dass es die sich abzeichnende Wirtschaftskrise ist, die im Verborgenen Konflikte, das Entstehen oder die gewaltsame Durchsetzung autoritärer Regime sowie die verlorene Zustimmung zur und das Vertrauen in die Demokratie verursacht. Aber wie Einstein sagte: „Die Welt, wie wir sie geschaffen haben, ist das Ergebnis unseres Denkens. Sie kann daher nicht verändert werden, ohne dass wir unser Denken ändern.“ Wie die Geschichte zeigt, besteht die Herausforderung darin, die Dinge mit so wenig Opfern wie möglich zu verändern.

Natürlich wehren sich Menschen, die Macht und Privilegien haben, gegen die Verluste, die sie zu erleiden glauben, wenn der Wandel vollzogen wird, und allein der Gedanke, alte Gewohnheiten aufgeben zu müssen, ruft aggressiven Widerstand hervor. Das größte Problem scheint mir jedoch die gegenseitige Abhängigkeit zwischen den Ländern und die Tatsache zu sein, dass die Menschen in den Industrieländern kaum eigene Ressourcen zu haben scheinen. Es wurde bewusst eine Abhängigkeit geschaffen, damit „die Maschine“, das globale Wirtschaftskonstrukt, weiterlaufen kann. Die Horrorszenarien von Filmen wie der Matrix haben bereits ihre Entsprechung, aber was der Film nicht zeigt, ist, wie viele Opfer die Zerstörung der Matrix mit sich bringen würde.

Aber um einen Wandel herbeizuführen, müssen wir uns selbst in Frage stellen: Lehnt man eine solidarische Gesellschaft ab, weil es Menschen gibt, die das System ausnutzen? Jedes System hat Schlupflöcher, alles andere wäre ein autokratisches System, mit drakonischen Strafen und extrem harter und strenger Durchsetzung, wie wir es derzeit in China mit den Corona-Maßnahmen erleben. Es ist leicht, sich eine Gesellschaft des Mitgefühls und der Solidarität vorzustellen, es ist etwas anderes, sie umzusetzen. Eine Geschichte hat mir das einmal deutlich gemacht:

Zwei Nachbarn sitzen Seite an Seite auf einer Bank in der Sonne und gehen ihren Gedanken nach. Der eine sagt: „Stell dir vor, du hättest einen Rolls-Royce“ – „Hmmm“, murmelt der andere vergnügt und stellt sich vor, wie er im Luxus chauffiert wird. „Und jetzt stell dir vor, du hättest zwei Rolls-Royce; würdest du mir einen geben?“ – „Klar!“, sagt der andere, und beide lächeln zufrieden und versinken in ihren Träumen. Nach einigem Schweigen sagt der eine: „Stell dir vor, du hättest zwei Segelyachten.“ – „Oh ja, das ist gut“, lächelt sein Freund und stellt sich vor, wie sie aussehen würden, „Würdest du mir eine schenken?“, fragt sein Freund. „Klar!“, sagt der andere herablassend. Nach einer Weile fragt der erste: „Stell dir vor, du hättest zwei Hemden – meinst du, du würdest mir eins schenken?“ „Nein!“, sagt der Freund. „Warum?“, fragt der andere. „Ich habe zwei Hemden!“, antwortet der Freund.

An dieser Stelle komme ich auf Erich Fromm zurück, der mit seinem Buch „Haben Oder Sein“ das größte Problem eines Systemwechsels benannt hat. Solange wir uns am Besitz orientieren, werden wir nicht wirklich zu einer solidarischen Gesellschaft. Würden wir uns dagegen an dem orientieren, was wir für die Gemeinschaft, zu der wir auch gehören, schaffen können, wäre das Gelingen dieser Zusammenarbeit wichtiger als die Frage, wie viel mehr ich habe als jemand anderes. Natürlich schreien manche auf: „Das ist Kommunismus!“ Aber das ist in erster Linie eine Haltung, eine Denkweise, keine Ideologie. Und wie Fromm betont, ist diese Denkweise Teil der Weisheit von Jahrtausenden menschlicher Erfahrung. Gegenseitige Solidarität führte vor sehr langer Zeit dazu, dass die Menschen Handel trieben und Waren austauschten. Es ging nur schief, als die Industrialisierung des Handels zur Ideologie wurde und Profit und Wachstum zum Sinn des Lebens machte.

In der Folge sind die Sorgen, die die Menschen umtreiben, die Angst, dass sie nichts mehr haben, dass, wie in der sowjetischen Wirtschaft, Millionen von Menschen verhungern, dass sie ausgebeutet werden, dass ihr Leben elend und sinnlos wird, dass sie keine Freude mehr haben werden. Es ist die Angst, dass das Leben nicht mehr so angenehm sein wird, und das Schlimmste ist, dass am Ende alles umsonst ist, weil irgendwann irgendein Herrscher die Macht übernimmt und alles nur noch schlimmer wird. Deshalb nehmen sie auch die in den Medien dargestellten Bedrohungen durch den Klimawandel nicht so ernst, weil die Alternative noch schlimmer erscheint. Woher nehmen die Menschen ihre Hoffnung für die Zukunft?

Der Journalist Georg Diez schrieb in der Zeit vom 28. November 2021: „Heute verdichtet sich die Hoffnungslosigkeit auf unerwartete Weise: Es gibt eine Mischung aus tiefem Verdruss, echtem Schmerz, einer ständig präsenten Angst und einer Resignation, die mehr bedeutet als ein individuelles Lebensgefühl, mit dem man sich nur noch durch den Nieselregen der eigenen Biografie schleppt – es ist eine gesellschaftliche Krise. Denn aus dieser Resignation erwächst eine mürrische Passivität, die politisch wirksam und auf Dauer demokratisch zerstörerisch wird.“ Er sprach dann über die Situation mit dem Corona-Virus, aber auch über den desaströsen Klimagipfel in Glasgow, und dennoch sieht er „zwischen dem Realen und dem Möglichen“ eine Chance, Innovation, Veränderung und Hoffnung zu finden. „Hier kommt nun die Hoffnung ins Spiel, die mehr ist als ein schwaches Gefühl, die nicht vage und ungefähr ist, wie man meinen könnte, oder wie sie sich vor allem im leidend-christlichen Kontext etabliert hat. Im Gegenteil, sie ist eine Kulturtechnik des Überlebens, sie kann erlernt und eingeübt werden, sie kann zu einer Strategie werden, die eine Realität erzeugt. In der Hoffnung, radikal verstanden, vollzieht sich der Schritt vom Gestern ins Morgen und aus der Passivität heraus.“

Der deutsche Philosoph Ernst Bloch schrieb im Vorwort zu seinem Buch „Das Prinzip Hoffnung“: „Es kommt darauf an, hoffen zu lernen. Seine Arbeit ist nicht der Verzicht, sondern die Liebe zum Erfolg statt zum Misserfolg.“ Und Konfuzius erkannte schon vor langer Zeit: „Es ist besser, ein einziges kleines Licht anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen.“ Die Frage ist, wo wir das Licht finden und ob wir den Mut haben, es anzuzünden. Die dunklen Jahreszeiten sind traditionell Zeiten, in denen man sich gegen die Dunkelheit auflehnt, Lichter entzündet und Pläne schmiedet. Ich glaube, dass jeder von uns sein eigenes Licht anzünden und mit anderen hoffen muss, um die Dunkelheit zu vertreiben.

„Berlin, wir haben ein Problem …“  

Man braucht nur einen kurzen Blick in die sozialen Medien zu werfen, um zu sehen, wie jede Diskussion sofort von irgendeinem anonymen Teilnehmer radikalisiert wird, ganz gleich, um welches Thema es geht. Das Problem scheint der wachsende Glaube zu sein, dass die Gesellschaft nur aus fragwürdigen Konstrukten besteht, die allesamt korrupt und Agenda-gesteuert sind. Das Problem ist, dass diese Ansicht oft die eigene Einstellung zur Gesellschaft widerspiegelt und die fehlende Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.  

Das größte Problem, das ich beobachte, ist, dass die Menschen sich selbst nicht mehr im geistigen Spiegel betrachten. Sie glauben, was die Stimme in ihrem Kopf ihnen sagt, ohne innezuhalten und die Gedanken zu hinterfragen. Die Frage ist nicht so sehr, ob etwas wahr ist, sondern ob es in meinem Freundeskreis Akzeptanz findet. Infolgedessen haben wir eine seltsame Vorstellung von Demokratie entwickelt, bei der die Mehrheit bestimmt, ob etwas wahr ist, und nicht eine ausgewogene Recherche. Das Problem dabei ist, dass wir es schon einmal erlebt haben, dass es wichtig war, alle zusammen mitzuschreien und mitzumarschieren.  

Es macht es denjenigen leicht, die einen autoritären Staat bevorzugen, denn die Menschen sind leicht zu manipulieren, und je mehr ich sie von Bildung oder informierter Berichterstattung trenne, desto leichter ist es für sie, denen zu glauben, die ihnen nach dem Mund reden, gefällige Parolen ausgeben und sie bei Laune halten. Es hilft, klare Feindbilder zu haben, „den Buhmann“, der für alle steht, die man je unsympathisch fand. Deshalb sollte er leicht zu erkennen sein und in den sozialen Medien entsprechende Beschimpfungen hervorrufen, die unisono wiederholt werden können.  

Interessant ist, dass es von beiden Seiten der politischen Extreme genutzt wird, so dass die Anarchie plötzlich seltsame Verbündete offenbart und Mitglieder der Linken und der AfD Hand in Hand die Demokratie in Frage stellen. Es ist auch vergleichbar damit, wie ein hysterischer Eiferer versucht, extreme Positionen durchzusetzen, sei es die uneingeschränkte Akzeptanz des Zugangs von Transgendern zu allen Bereichen, die zum Schutz von Frauen und Mädchen eingerichtet wurden, oder das genaue Gegenteil, Transgender praktisch verbieten zu wollen. Absolute Schrankenlosigkeit versus absolute Kontrolle, und in der Mitte scheint es ein Niemandsland zu geben. Wie gesagt, wir waren schon einmal hier, als sich die Leute eingegraben und mit Granaten beworfen haben. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in Deutschland Einigkeit darüber, dass von deutschem Boden kein Krieg ausgehen sollte. Es scheint, dass wir uns im eigenen Land zum verbalen Krieg anstacheln ließen. Jeder wusste, dass die große Begeisterung für den Sport, die bedingungslose Treue zur eigenen Mannschaft und die Verachtung für die Fans der gegnerischen Mannschaft, ein Ersatz für den Krieg war. Dass sie nun auch auf jede Debatte übertragen wurde, hat zugenommen. Ja, es gibt andere schlimmere Beispiele, höre ich mein Leser sagen, doch diese stellen ein Trend dar, und es wird angestachelt von Ländern, die bereits unter autoritären Regimen stehen. Der kalte Krieg lebt wieder auf. 

Passen Sie bitte auf, glauben sie erstens die Stimme im eigenen Kopf ohne Vorbehalt, und auch nicht was andere sagen, ohne zu prüfen, ob es wahr ist. Nur weil ein Freund etwas gesagt hat, bedeutet nicht, dass es wahr sein muss. Jede von uns kann getäuscht werden, und je verbissener unser Kampf, umso schwieriger es ist sich zu revidieren. Vor allem, wir können nur zusammen die Probleme bewältigen, die auf uns zukommen, nicht in Schützengräben eingegraben. 

Das Jahr 2023 beginnt!

Dieses Jahr hat fantastisch angefangen, und wir haben uns Covid zugezogen, wahrscheinlich in der Kneipe, die wir früh verlassen haben, weil die Musik so laut war. Also hat nicht nur der DJ den Abend ruiniert, sondern jemand in der Gruppe hatte Covid und wusste wahrscheinlich nichts davon. Man kann wohl sagen, dass es vorhersehbar war, aber ich bin trotzdem nicht glücklich darüber. Wir haben unsere Gewohnheiten für diesen Abend geändert, und ich bin sicher, das war der entscheidende Fehler. Es ist schon seltsam, wie man die Vorsichtsmaßnahmen, die die Menschen vor Hunderten von Jahren getroffen haben, in der heutigen Zeit übernehmen kann: Misstrauen ist allgegenwärtig, Aberglaube ist weit verbreitet, Verschwörungstheorien verbreiten sich wie ein Lauffeuer, und Menschen mit weniger Mitteln meiden andere, aus Angst vor ansteckenden Krankheiten.

Ich erinnere mich an einen Arzt, der mir vor einigen Jahren erzählte, dass er und seine Kollegen während ihres Studiums sicher waren, dass wir eines Tages in eine Ära eintreten würden, in der Impfschäden auf ein Minimum reduziert würden und die Menschen um die Welt reisen könnten. Es scheint, dass sich ihre Hoffnung zerschlagen hat. Wir reisen zwar um die Welt, aber wir bringen Infektionen mit, gegen die wir immer mehr Impfungen brauchen. Ich bin sicher, dass sich auch andere wie ein Nadelkissen fühlen, und doch sind wir hier mit Covid. Mir ist klar, dass es schlimmer hätte sein können und dass der Impfstoff unseren Körper in die Lage versetzt hat, besser damit umzugehen, aber gut ist es trotzdem nicht. Aber ich lebe noch und es geht mir gut, also brauche ich nicht allzu viel Trost. Wir haben das Glück, dass wir alles, was wir zum Überleben brauchen, schon vorher gekauft haben, so dass wir keine Leute brauchen, die für uns einkaufen gehen. Es sind nur die Abende, die immer schlimmer werden, und die Tatsache, dass man tagsüber schnell müde wird.

Was natürlich wie ein Damoklesschwert über uns hängt, ist die Tatsache, dass der Krieg in der Ukraine weitergeht und man das Gefühl hat, dass etwas vorbereitet wird, das die Welt erschüttern wird. Das ist immer der Fall, wenn man das Gefühl hat, dass der Außenseiter auf dem Vormarsch ist, und ich hoffe, dass ich mich irre. Natürlich werden die versprochenen Waffen den Ukrainern helfen, sich zu verteidigen, aber da Putin nicht nachgibt, scheint es unbestreitbar, dass er eine Lösung anstreben wird, die uns den Atem rauben könnte. Ich bin es leid, dass der Westen dazu neigt, auf Menschen einzudreschen, die eine andere Meinung haben oder nicht so reagieren, wie wir es uns wünschen, und das ist nicht nur ein Problem der sozialen Medien, sondern auch eines der Presseindustrie. Der deutsche Bundeskanzler Scholz hat ganz klar und meines Erachtens auch verständlich gesagt, dass es kein eigenständiges Handeln Deutschlands geben wird, sondern nur in Absprache mit den NATO-Verbündeten. Deshalb war die jüngste Erklärung zur Waffenhilfe eine Entscheidung, die gemeinsam mit den USA und Frankreich getroffen wurde. Seine Position wird nicht nur international, sondern auch national kritisiert, aber das ist der Stand der Dinge in der Presse.

Dieser ganze Konflikt hält uns auf Trab, aber auch das Klimaproblem ist nicht zu übersehen. Der Schneemangel in den Alpen ist derzeit nur ein Problem für die Tourismusindustrie und die Skifahrer, während in anderen Teilen der Welt Schnee im Überfluss vorhanden ist – manche würden sagen, zu viel. Der Klimawandel verändert die Gebirgsregionen auf der ganzen Welt, und das gilt natürlich auch für die Alpen. Die Gletscher schrumpfen, die Baumgrenze verschiebt sich, und die Schneeperioden im Winter werden kürzer. Auch in den Alpen wird die Schneesaison kürzer. Filme von Wanderern rund um die Rheinquelle zeigen einen traurigen Anblick, der die Frage aufwirft, wie lange der Rhein noch Schiffe und Waren transportieren wird. Ich glaube, dass viele denken, dass das süße Wasser nur aus dem in der Luft aufbereiteten Wasser kommt, aber der Regen muss an der richtigen Stelle fallen, um von der Natur und den Menschen genutzt zu werden und nicht zu sauer zu sein. Es gibt ein Gleichgewicht, das bewahrt werden muss, und wir haben das Gefühl, dass das Wetter aus dem Gleichgewicht geraten ist.

In Deutschland fragen sich wohl die meisten Menschen, was die Aufregung um die Berichterstattung über Prinz Harrys Dienst angeht. Es ist wirklich seltsam, wie ein gewisser Mic Wright auf substack feststellt, denn in Afghanistan wurden nach seiner Rückkehr 2013 ähnliche Dinge geschrieben, wie sie jetzt in seinem Buch erschienen sind. Mic Wright legt in seinem Artikel den tiefen Hass der rechten Presse auf Harry offen und zeigt den Unterschied in der Berichterstattung damals und heute, die heute eindeutig darauf abzielt, ihm zu schaden. Wright erwähnt die Tatsache, dass sie sogar die Taliban nach ihrer Meinung gefragt haben, was ein Attentat noch möglicher (wahrscheinlicher?) macht.

Peter Hunt, ehemaliger BBC-Korrespondent und -Moderator, hat sich auf Twitter zu Prinz Harrys Buch geäußert, das in der Presse stark kritisiert wurde, indem er die folgenden Aussagen zitiert:

„Afghanistan war ein Krieg voller Fehler, ein Krieg mit enormen Kollateralschäden – Tausende von Unschuldigen wurden getötet und verstümmelt, und das hat uns immer verfolgt. Mein Ziel war es daher, vom Tag meiner Ankunft an niemals mit dem Zweifel ins Bett zu gehen, dass ich das Richtige getan hatte, dass meine Ziele richtig waren, dass ich auf Taliban und nur auf Taliban schoss und keine Zivilisten in der Nähe waren. Ich wollte mit allen meinen Gliedmaßen nach Großbritannien zurückkehren, aber noch mehr wollte ich mit einem intakten Gewissen nach Hause gehen. Das bedeutete, dass ich mir zu jeder Zeit bewusst sein musste, was ich tat und warum ich es tat.“

„Die meisten Soldaten können Ihnen nicht genau sagen, wie viele Tote sie zu beklagen haben. Unter Gefechtsbedingungen wird oft wahllos geschossen. Aber im Zeitalter von Apaches und Laptops wurde alles, was ich im Laufe von zwei Kampfeinsätzen tat, aufgezeichnet und mit einem Zeitstempel versehen. Ich konnte immer genau sagen, wie viele feindliche Kämpfer ich getötet hatte. Und ich hielt es für unerlässlich, diese Zahl niemals zu verheimlichen. Unter den vielen Dingen, die ich in der Armee gelernt habe, stand die Rechenschaftspflicht ganz oben auf der Liste.“

„Also, meine Zahl: Fünfundzwanzig. Es war keine Zahl, die mir Befriedigung verschaffte. Aber es war auch keine Zahl, für die ich mich schämte. Natürlich hätte ich es vorgezogen, diese Zahl nicht in meinem militärischen Lebenslauf zu haben, aber genauso hätte ich es vorgezogen, in einer Welt zu leben, in der es keine Taliban gab, in einer Welt ohne Krieg. Aber selbst für einen gelegentlichen Anhänger magischen Denkens wie mich lassen sich manche Realitäten nicht ändern.“

„In der Hitze und im Nebel des Kampfes habe ich diese fünfundzwanzig nicht als Menschen betrachtet. Man kann keine Menschen töten, wenn man sie als Menschen ansieht. Man kann Menschen auch nicht wirklich schaden, wenn man sie als Menschen betrachtet. Sie waren Schachfiguren, die vom Brett genommen wurden, „die Schlechten“, die entfernt wurden, bevor sie „die Guten“ töten konnten. Ich war darauf trainiert worden, sie „anders“ zu sehen, gut trainiert. Auf einer gewissen Ebene erkenne ich diese erlernte Distanzierung als problematisch an. Aber ich sah sie auch als einen unvermeidlichen Teil des Soldatentums an. Eine andere Realität, die man nicht ändern kann.“

Wer dafür kein Verständnis für diese Worte hat und dies in einer Tageszeitung kritisiert und sich dabei sogar auf die Meinung der Taliban beruft, kann nicht mit der Waffe gedient haben und ist ein Verräter an allen Soldaten, die in diese Lage gebracht wurden, und an Harry, der einen durchaus respektablen und nachdenklichen Bericht über seinen aktiven Dienst gegeben hat. Ich kann die Verachtung nicht verbergen, die ich für Menschen empfinde, deren einziger Lebenszweck darin besteht, andere Leben zu zerstören. Es tut mir leid, dass Harry sein Buch herausgebracht hat, aber wie eine andere öffentliche Figur in England, James O’Brien, schon sagte, wird es den Leuten jetzt schwerer fallen, sich Dinge auszudenken, nachdem Harry’s Seite der Geschichte veröffentlicht und bekannt ist.

Aber es gibt so viele Fälle, in denen deutlich wird, was für eine verkorkste Gesellschaft wir geworden sind, und es macht mich traurig, wenn ich an die Ukrainer denke, die sterben, und an die Flüchtlinge, die ihr Leben riskieren, um daran teilzuhaben. Natürlich ist es das Beste, was es gibt, Russland und China sind keine Alternativen, aber in was für einen Zustand haben wir uns gebracht! Wahrscheinlich macht Covid alles noch schlimmer, also höre ich hier auf und komme wieder, wenn es mir besser geht.